DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Kleinigkeiten - Basics 3

Erzähl mir mal, was wir noch aus Corona lernen können“, sage ich zu meinem Nachbarn, „du warst gestern doch noch nicht fertig“. Es ist ein neuer Tag. Die Sonne scheint von einem strahlend blauen Himmel auf uns herab, die Luft ist mild und die Vögel singen. Es ist schön, draußen zu sein und ich bin wieder mal unendlich froh, einen Garten zu haben.

Wir stehen am Zaun, halten aber ganz brav einige Meter Corona-Abstand voneinander. „Du willst noch mehr von Gottes großem Plan hören?“, fragt er grinsend.

Ich nicke. „Ich habe da nochmal drüber nachgedacht“, sage ich, „vielleicht ist dein Bild gar nicht so falsch: Hielt man Seuchen nicht früher für Strafen Gottes?“.

„Ja“, antwortet er, „weil man für alles höhere Mächte verantwortlich machte. Es gab einfach keine anderen Erklärungen, schließlich wusste man so gut wie nichts über die Zusammenhänge in der Natur. Heute sind wir natürlich viel weiter.“ So wie er es sagt, klingt es irgendwie höhnisch.

„Also doch kein Fingerzeig Gottes?“, frage ich.

„Du weißt doch, dass ich nicht religiös bin. Aber …“, er überlegt, „was ich meine, hat schon mit Religion zu tun“.

Ich sage nichts, warte nur ab. Er braucht seine Zeit.

„Also pass auf“, hebt er schließlich an, „ich finde, der Virus könnte uns daran erinnern, dass der Mensch ein Teil der Natur ist, ein Säugetier. Ein ziemlich schlaues, aber eben doch einfach ein Säugetier. Und diesem Säugetier ist auch nicht von irgendwem, aus irgendwelchen Gründen eine besondere Rolle zugedacht.“

Ich überlege, was er wohl meint und sage dann: „Du meinst von wegen, ‚Macht euch die Erde untertan‘ und so?“

„Genau, und so.“ Er nickt. „Wir glauben, die Erde sei für den Menschen da. Und, schlimmer noch, wir glauben auch sie behandeln zu können, wie es uns gefällt; wird schon gutgehen. Wie ein Kind, das sicher sein kann, ein neues Spielzeug zu bekommen, wenn es das alte kaputtmacht. Und diese Weltsicht stammt meiner Ansicht nach, zu einem Gutteil aus unserer vielgelobten abendländisch, christlichen Kultur.“

„Ist das so?“, frage ich.

„Ichkann es nicht belegen“, sagt mein Nachbar, „ich bin kein Kulturwissenschaftler. Vermutlich könnte man darüber dicke Bücher schreiben – wahrscheinlich ist das sogar schon geschehen; aber immerhin war es Jahrhunderte lang ein zentrales Dogma der Kirche, dass Gott die Welt für den Menschen geschaffen hat. Wer behauptete, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei, konnte sich schon bald auf dem Scheiterhaufen wiederfinden.“

„Ja“, sage ich, „Giordano Bruno zum Beispiel“.

„Gutes Beispiel“, nickt er. „Da hat die Kirche vor gerade mal zwanzig Jahren zugegeben, dass das wohl ein Fehler war. Hat nur vierhundert Jahre gedauert.“

„Aber“, werfe ich ein, „das glaubt doch heute keiner mehr“.

Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Also erstens, sage ich vor allem, dass das unsere Kultur, unsere Denkweise maßgeblich geprägt hat. Und zweitens, meinst du das doch wohl nicht ernst.“ Er sieht mich fragend an.

Ich zucke nur mit den Schultern.

„Ich habe die genauen Zahlen jetzt nicht parat und wahrscheinlich schwanken sie auch immer etwas, je nach Umfrage, aber in den USA, der größten und wichtigsten Industrienation der Welt, glaubt rund die Hälfte der Menschen, dass Gott die Welt erschaffen hat. Sie glauben im Wesentlichen das, was in der Bibel steht. Unglaubliche neunzig Prozent lehnen die Evolutionstheorie ab oder halten sie zumindest für fragwürdig.“

„Aber bei uns ist es doch nicht so“, sage ich – die Besessenheit meines Nachbarn mit den USA irritiert mich immer wieder.

„Nein“, gibt er zu, „bei uns sind die Zahlen – Gott sei Dank – sicherlich deutlich kleiner“. Er grinst und zeichnet Anführungszeichen in die Luft. „Aber du willst doch nicht bestreiten, dass die Ansicht ‚Die Welt gehört uns‘, auch bei uns sehr verbreitet ist, oder?“

„Stimmt ja irgendwie auch“, sage ich.

„Tja“, sagt er, „es ist die alte Frage, ob man immer alles machen sollte, was man machen kann.“

„Verstehe ich nicht.“

„Wir wissen unglaublich viel über die Zusammenhänge in der Welt, über die Mechanismen, wie alles zusammenwirkt, glauben aber, das völlig ignorieren zu dürfen. Wir benehmen uns, als stünden wir außerhalb der Natur, als könnten wir uns alles erlauben. Als beträfen uns ihre Gesetzmäßigkeiten gar nicht. Die Erderwärmung wird uns und unseren Nachkommen sehr deutlich zeigen, dass das nicht stimmt. Und der Virus gibt uns darauf einen kleinen Vorgeschmack.“

Ich schüttle zweifelnd den Kopf. „Aber Viren, Bakterien, dieses ganze Kleinzeug, das ist doch keine Natur“, sage ich, „das ist doch …“, mir fällt nichts ein, „na, ich weiß auch nicht, so Kroppzeug halt“, schließe ich etwas lahm.

Mein Nachbar lächelt mich freundlich an. „Da hast du eines unserer Probleme sehr schön auf den Punkt gebracht“, sagt er.

„Häh?“

„Ja, es fällt uns Menschen sehr schwer zu akzeptieren, dass es um uns herum ziemlich viel gibt, das auch Teil dieser Welt ist und darin seinen Platz und seine Funktion hat. Und je kleiner etwas ist, desto unbedeutender erscheint es uns. Wir können vielleicht noch irgendwie die regulatorische Funktion des Wolfes akzeptieren, aber was nützen Mäuse? Lerchen? Ameisen? Überhaupt Insekten; und schließlich eben auch Mikroorganismen. All dieses kleine Gewimmel betrachten wir doch bestenfalls als nutzlos, meist eher als lästig bis schädlich. Und übersehen dabei, dass alles seine Funktion hat.“

„Aber Mikroorganismen …?“, sage ich zweifelnd, „obwohl ..“, mir fällt etwas ein: „Hefebakterien sind natürlich wichtig“, sage ich. „Ohne Hefe kein Bier.“

„Hefe ist ein Pilz“, sagt mein Nachbar. „Aber danke, du machst sehr schön ein weiteres unserer Probleme deutlich.“

„Tu ich das?“

„Ja“, nickt er, „wir neigen dazu, nur dem ein gewisses Existenzrecht einzuräumen, worin wir für uns einen ganz direkten Nutzen erkennen können. Alles andere hat es sehr schwer. Es hat ja scheinbar keinen Wert.“

Mir fällt ein, wie unbegreiflich ich es immer finde, wenn wegen irgendeinem seltenen Kraut oder einer Fledermaus, Brücken, Autobahnen oder sonst was nicht gebaut werden sollen.

„Dieses System in dem wir leben – die Natur wenn du so willst – hat in Jahrmillionen zu dieser Ausgewogenheit gefunden, in der auch der Mensch seinen Platz hat. Es ist ein eigentlich sehr robustes System, mit einem Gleichgewicht, das immer in Bewegung und doch stabil ist. Nur wirklich dramatische Einflüsse bringen es zum Kippen.“

„Ein dynamisches Gleichgewicht?“, rätsele ich laut. „Ach so, du meinst wie beim Radfahren.“

„Genau“, bestätigt mein Nachbar. „Ein Pendeln um eine stabile Mittellage.“ Er überlegt, „natürlich ist das grob vereinfacht. Es gibt selbstverständlich unzählige Teilsysteme, mit jeweils eigenem Gleichgewicht, nimm zum Beispiel Australien – aber natürlich beeinflussen sich die Teile auch gegenseitig und werden selbst wiederum von übergeordneten Mechanismen beeinflusst.“

Ich überlege. „Du meinst sowas wie den Golfstrom?“, frage ich.

„Zum Beispiel“, bestätigt er. „Oder allgemein: die Strömungen in den Ozeanen und in der Atmosphäre. Und natürlich die Zusammensetzung der Atmosphäre.“ Er lächelt traurig.

„Aber das sind jetzt ja ziemlich große Sachen“, sage ich schnell, „wir waren doch eigentlich bei den ganz kleinen, oder?“.

„Stimmt“, sagt er. „Ich habe mich wieder ein bisschen davontragen lassen …“, er macht eine Pause. „Aber wo wir gerade bei den Ozeanen sind, da ist der Wert des Kleinen ja besonders anschaulich.“ Er schaut mich an. „Wir sprachen ja neulich mal über Delfine und das sicher jeder möchte, dass sie geschützt werden. Genauso Wale, oder?“

„Klar“, sage ich. Ich erinnere mich noch gut an unsere Diskussion um delfinfrei gefangenen Thunfisch.

„Tja“, sagt er, „und diese wunderbaren Tiere müssen essen. Und was essen sie?“

„Na, andere Fische“, sage ich. „Und essen die Wale nicht auch Plankton? Diesen Krill?“

„Genau. Also kleinste Organismen, zum Teil nur wenige Millimeter groß. Eindeutig kleines Gewimmel. Aber wäre es plötzlich verschwunden, wären kurz darauf auch die Wale weg.“

„Moooment“, sage ich gedehnt. „Das betrifft ja nur die Bartenwale, die anderen, die Zahnwale, die fressen ja kein Plankton. Die wären also nicht betroffen.“ Ich freue mich, wie immer wenn ich ihn korrigieren kann.

„Korrekt“, sagt er denn auch. Nur um gleich darauf anzufügen: „Allerdings hätten sie nur ein wenig Zeit gewonnen, ihr Schicksal wäre genauso besiegelt.“

„Wieso das?“, frage ich verblüfft.

„Na ja, was fressen denn die Zahnwale?“

Ich überlege, „ich glaube, vor allem Tintenfische und Kraken und so, wahrscheinlich auch andere Fische“.

„Und was fressen die“, fragt er weiter.

„Na vermutlich auch wieder Fische, kleinere, und Muscheln, Krebse und was weiß ich“.

„Und was fressen die Fische, Muscheln, Krebse und was weiß ich?“, fragt er geduldig.

„Ach so“, sage ich. Mir dämmert worauf er hinauswill.

„Genau“, sagt er. „Die großen Fische fressen die kleinen, aber auch die kleinen und kleinsten Fische müssen fressen. Und natürlich gibt es auch für sie etwas, das noch kleiner ist und das sie fressen können. Und so kommen wir schließlich irgendwann zum Plankton. Und zu einem Riesenreich kleinster Organismen, wo genauso die Großen die Kleinen fressen – denn jedes Lebewesen, das seine Energie nicht direkt aus dem Sonnenlicht holen kann, muss andere Lebewesen fressen.“

„Das würde ja bedeuten“, sage ich nachdenklich, „dass die kleinsten Lebewesen im Ozean die wichtigsten sind, weil darauf alles aufbaut. Das is ja `n Ding“.

Er lächelt mich an, „sonderbar, nicht wahr? Aber das Sonderbarste ist, dass du das natürlich eigentlich die ganze Zeit gewusst hättest – hättest du nur mal eine Minute in Ruhe drüber nachgedacht.“

„Das stimmt“, muss ich zugeben.