DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Zwanglos

Du gehst doch so gerne zu Demonstrationen“, begrüße ich meinen Nachbarn, kaum dass ich ihn sehe.

„Wie kommst du denn auf die Schnapsidee?“

Ich bin verblüfft. „Na, du warst doch immer auf diesen Klimademos … also dachte ich, dass du da wohl gerne hingehst. Warum denn sonst?“

Er grinst irgendwie schief. „Ich gehe dahin, weil ich glaube dass es nötig ist – wenigstens auf die Straße zu gehen. Mir wäre es hundertmal lieber, ich könnte es mir sparen.“

„Ach so“, ich überlege, „na wie auch immer. Jedenfalls war ich letztens auch auf einer Demo – das war super! Tolle Stimmung, supernette Leute. Und ich wollte fragen, ob du nächstes Mal mitkommen willst?“

Er runzelt die Stirn. „Jetzt sind doch gar keine Demos … wegen Corona … was soll denn das gewesen sein?“

„Da geht’s ja gerade drum: Über Corona aufzuklären, was dahintersteckt und so. Aber vor allem hat sich die Demo glaube ich gegen die Einschränkung der Freiheitsrechte gerichtet. Das ist dir doch wichtig. Deshalb dachte ich ja auch …“. Ich sehe ihn auffordernd an.

„Sorry“, sagt er kopfschüttelnd, „ich verstehe immer noch nicht: Welche Einschränkung der Freiheitsrechte denn?“

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. „Was ist denn auf einmal mit dir los? Du bist doch sonst so gut informiert.“ Ich zähle ihm also auf: „Alle größeren Veranstaltungen sind verboten. Versammlungsfreiheit … pfft“, ich puste in meine Handfläche, um darzustellen, wie sie davonfliegt. Alle möglichen Geschäfte müssen geschlossen bleiben … Gewerbefreiheit … pfft. Man soll nur noch rausgehen, wenn es unbedingt sein muss … Bewegungsfreiheit … pfft. Wir müssen blöde Masken tragen, haben also plötzlich ein Vermummungsgebot. Wir sollen uns nicht mehr besuchen. Ich muss von zu Hause arbeiten, Schulen und Kitas sind zu und und und …“

„Gestern hast du noch gesagt, dass du dich ans Homeoffice gewöhnen könntest“, sagt er.

„Schon, aber darum geht es doch nicht. Es geht um den Zwang. Verstehst du das denn nicht?“. Ich schüttle den Kopf. „Hier wird mal eben der Rechtsstaat abgeschafft.“

Mein Nachbar schaut mich freundlich lächelnd und leicht nickend an. „Ich bin beeindruckt“, sagt er, „dass du dich plötzlich so für Politik und Grundrechtsfragen interessierst. So kenne ich dich ja gar nicht. Du scheinst dich da ja richtig reingekniet zu haben?“

Ich lächle geschmeichelt. „Eigentlich gar nicht so sehr“, sage ich, „aber das liegt doch alles auf der Hand. Und auf der Demo habe ich mit ner Menge Leute geredet, die haben mir alles erklärt. Du, ich könnte dir Sachen erzählen …“

„Also mit der Abschaffung des Rechtsstaats“, unterbricht er mich, „da mache ich mir eigentlich keine Sorgen. Oder glaubst du, dass sich unsere Kanzlerin plötzlich entschieden hat, künftig als Diktatorin zu herrschen?“, er grinst mich an.

Ich muss gegen meinen Willen lachen. „Königin Merkel?“, sage ich, „eher nicht“.

„Und was die Einschränkungen angeht – ja, es gibt zahlreiche Einschränkungen um die Ausbreitung des Virus möglichst zu bremsen. Aber die sind doch vernünftig. Bei einer Pandemie kann das Leben natürlich nicht einfach weitergehen wie immer. Und tatsächlich haben viele Menschen das ja schon lange vor den offiziellen Beschränkungen beherzigt. Deshalb sind unsere Zahlen ja so schnell runter gegangen.“

„Ja“, sage ich, „aber trotzdem wurden dann diese ganzen Einschränkungen verordnet. Das hätte doch gar nicht sein müssen. Wer zu Hause bleiben will bleibt eben zu Hause. Und wer das nicht will, der wird dann eventuell krank. Das regelt sich dann schon.“

„Du bist lustig“, sagt er. „Das regelt der Markt, oder was? Wie lange soll das denn dauern? Es musste irre schnell gehen, jeder Tag zählte.“ Er überlegt. „In Großbritannien hat eine Modellrechnung ergeben, dass man nur die Hälfte der Todesfälle hätte, wäre der Lockdown eine Woche früher angeordnet worden.“

„Ich weiß nicht“, sage ich. „Die immer mit ihren Modellen, was die sich da ausdenken.“

„Großbritannien“, sagt mein Nachbar daraufhin, „hat mittlerweile über vierzigtausend Coronatote. Selbst wenn das Modell danebenliegen sollte, reden wir auf jeden Fall über mehrere tausend Menschen, die noch am Leben sein könnten.“ Er schaut mich an. „Deutschland hat übrigens rund ein Drittel mehr Einwohner als Großbritannien. Wir haben aber nur etwa ein Fünftel der Todesfälle. So gesehen, ist das bei uns doch vergleichsweise gut gelaufen, oder?“

Da kann ich nun schwer was gegen sagen, will das aber auch nicht so stehenlassen. „Ich hab einfach was gegen diese ganze Gängelei“, antworte ich schließlich. „An allen Enden werden einem Vorschriften gemacht. Dauernd gibt’s was Neues, was man zu tun und zu lassen hat.“

„Hmm“, sagt er nachdenklich, „wusste gar nicht, dass das für dich so’n Thema ist“. Er überlegt. „Aber warum nicht, es gibt ja ne Menge Menschen, die sich von Regeln und Gesetzen sozusagen in ihren Lebensrechten eingeschränkt fühlen. Schließlich sind sie freie Menschen, die tun und lassen können was sie wollen.“

„Ist doch auch so“, sage ich, „nur bei uns leider nicht“.

„Na ja, manche Regeln sollte man im eigenen Interesse beachten und andere im Interesse seiner Mitmenschen – in der Hoffnung, dass die einem selbst gegenüber genauso rücksichtsvoll sind. Wir leben in einer unglaublich komplexen Welt ziemlich dicht zusammen, natürlich brauchen wir Regeln, damit das klappt. Und besondere Situationen brauchen eben besondere Regeln. Freiheit hin oder her.“

Ich schüttle zweifelnd den Kopf. „Ich fühle mich durch diese ganzen Einschränkungen aber drangsaliert“, sage ich. „Und unfrei“, füge ich noch an. „Ich kann ja nicht mal mehr zum Tischtennis gehen. Obwohl man da ja zwangsläufig genug Abstand voneinander hat.“ Ich spiele nämlich im Verein. „Das ist doch völlig willkürlich.“ Mein Ärger ist jetzt wieder da.

„Dein geliebtes Tischtennis“, sagt er. „Verstehe. …. Weißt du, woran ich immer denken muss, wenn es um Regeln geht?“

„An Tischtennis?“, frage ich verständnislos. „Du spielst doch gar nicht.“

„Nein“, sagt er, „an den Straßenverkehr. Weil da doch jedem klar ist, dass Regeln sinnvoll sind.“

„Da wird es auch ganz schön übertrieben“, sage ich, „aber im Prinzip hast du natürlich recht“.

„Mir geht es gar nicht so sehr um die offiziellen Regeln“, sagt er, „eher darum, sich einfach vernünftig zu verhalten – vor allem dann, wenn man nicht zwei Tonnen Stahl und ein Dutzend Airbags um sich herum hat.“

„Häh?“, frage ich verständnislos. „Noch mehr Regeln? Nicht nur die offiziellen? Was meinst du denn?“

„Erinnere dich mal dran“, sagt er, „als du deinen Kindern beigebracht hast, wie sie über die Straße gehen sollen: Bevor sie losgehen, links schauen, rechts schauen und nochmal links schauen“.

Ich lächle bei der Erinnerung daran, wie klein sie damals waren und wie ich sie bei der Hand hielt.

„Erinnerst du dich noch, was das für ein Kampf war? Weil Kinder anfangs immer denken, es ginge einfach darum, den Kopf hin und her zu drehen. Einfach irgendeine weitere unbegreifliche Erwachsenenregel. Aber du weißt wie entscheidend es ist, es genau so zu machen und dabei auch wirklich zu gucken.“

Ich nicke. Ich erinnere mich noch gut an die Sorgen die ich mir gemacht habe und wie ich oder meine Frau ihnen die ersten Tage immer heimlich gefolgt sind.

„Du hättest natürlich auch sagen können: ‚Denk immer dran, dass du ein freies Kind in einem freien Land bist und dass du hingehen kannst wo du willst. Wenn du also über die Straße willst, dann gehst du einfach rüber‘.“

„Bist du verrückt?“, sage ich. Mich schaudert’s schon bei dem Gedanken an die Vorstellung.

„Genau“, sagt er nickend, „das wäre völlig verrückt. Als Idee kann man das vor sich her tragen, aber die Realität würde einen sehr schnell einholen. Und in diesem Fall beziehen sich die Regeln eben nicht auf heranbrausende LKWs, sondern auf in der Luft hängende Viren. Müssen wir irgendwie mit klarkommen. Und da tasten wir uns gerade ran.“

Da weiß ich jetzt erstmal nichts drauf zu erwidern, aber mir fällt ein, was ich auf der Demo noch alles gehört habe: „Wenn da überhaupt Viren sind“, sage ich auftrumpfend zu ihm.

Er schaut mich ungläubig an, dann sagt er plötzlich: „Du … mir fällt gerade ein, dass ich … ganz dringend …. jemand anrufen muss. Wir sprechen später weiter.“

Und weg ist er. Schade, ich hätte ihm noch so viel erzählen können.