DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Sehgewohnheiten - Basics 5

Du sagst doch immer, dass wir durch Corona so viel lernen können“, sage ich.

Mein Nachbar nickt.

„Ich hab schon ´ne ganze Menge gelernt.“

„Erzähl“, sagt er.

„Also als erstes mal, dass mir der Himmel ohne Flugzeuge besser gefällt.“ Ich schaue nach oben, es ist, wie schon seit Tagen, ein makellos blauer Himmel, mit wenigen kleinen Wolken, aber ohne einen einzigen Kondensstreifen. „Es ist mir zuerst gar nicht aufgefallen“, sage ich, „aber dann dachte ich: ‚Ist ja wie früher. Als jedes Flugzeug am Himmel noch ein Ereignis war.‘ Und ich finde es ist dadurch auch irgendwie ruhiger. Gar nicht mal so sehr wegen der Geräusche – es ist irgendwie eine entspanntere Atmosphäre. Findest du bestimmt quatschig, oder?“

„Überhaupt nicht“, sagt mein Nachbar. „Geht mir genauso. Schade nur, dass gerade jetzt tatsächlich doch noch unser Flughafenzombie an den Start geht.“

„Ja“, sage ich, „das ist echt ´n Ding. Ich war sicher, dass das nie was wird. Dass sie daraus ein Flughafenmuseum machen. Tja, Pech gehabt.“

„Na“, sagt er, „warten wir mal ab, wie`s wird. Vielleicht kehrt ja doch noch die Vernunft ein und es wird künftig weniger geflogen.“

Wie schweigen beide für einen Moment.

„Und“, sagt er schließlich, „hast du noch mehr gelernt?“

„Stimmt“, sage ich, „da waren wir ja gerade bei. Ja, habe ich. Noch einiges. Zum Beispiel, wie schnell man sich an Dinge gewöhnt.“

„Ans Maske tragen?“

„Sogar daran“, sage ich. „Neulich bin ich sogar mit Maske vom Einkaufen nach Hause gekommen. Aber das meinte ich nicht.“

„Sondern?“

„Wie soll ich das erklären?“, überlege ich laut. „Ich meine“, sage ich schließlich, „dass plötzlich Sachen falsch wirken, die früher ganz normal waren“.

„Was denn zum Beispiel?“, fragt mein Nachbar interessiert.

„Es ist ganz sonderbar“, sage ich zögernd, plötzlich ist es mir doch unangenehm darüber zu reden, „aber wenn ich jetzt einen Film sehe, dann denke ich ‚Wieso stehen die denn so nah beieinander?, Warum halten die keinen Abstand?‘. Verstehst du? Was früher ganz normal war, ist jetzt befremdlich. Neulich bin ich richtig erschrocken, als sich in einem Film alle mit Küsschen begrüßten. Mein erster Gedanke war: ‚Sind die denn verrückt?‘.“

Er lacht nachdenklich. „Jetzt, wo du es sagst, … guter Hinweis. Neulich war da so eine Szene, da standen alle ganz dichtgedrängt im Fahrstuhl – und keiner trug eine Maske. Das war mir ganz unheimlich. Ist mir aber gar nicht aufgefallen, wie sonderbar das eigentlich ist. Vielen Dank“, sagt er. „Und, geht es dir denn im wirklichen Leben auch so?“

„Du meinst, ob mir jemand ohne Maske unheimlich ist?“, frage ich.

Er nickt.

„Weiß ich gar nicht“, überlege ich. „Nö, eigentlich nicht. Aber bei uns tragen ja auch die meisten Masken.“

„Ja“, sagt er, „aber eben nicht alle“.

„Nee“, sage ich, „unheimlich ist es mir nicht. Aber es fällt mir auf.“ Ich überlege, „das ist doch eigentlich auch ein Ding, oder? Vor zwei Monaten hätten dich im Supermarkt alle angestarrt, wenn du eine Maske getragen hättest – heute tun sie das, wenn du keine trägst.“ Ich schüttle den Kopf. „Komische Zeiten.“ Mir fällt noch etwas ein: „Stell dir mal vor“, sage ich, „du hättest vor ein paar Monaten in einen Film gezappt, wo in einem deutschen Supermarkt alle mit Maske rumlaufen …“.

Er grinst. „Ich hätte gedacht, das muss Versteckte Kamera oder so sein. Geht gar nicht anders.“

„Genau“, sage ich.

Mein Nachbar nickt zustimmend. „Und“, sagt er, „hast du noch mehr?“. Er klingt jetzt viel interessierter.

„Klar“, sage ich. „Über meine Arbeit. In letzter Zeit hatte ich ja schon angefangen, die Tage bis zur Rente zu zählen – auch wenn’s noch ein paar Jahre hin ist“.

„Und das machst du jetzt nicht mehr?“

„Na ja“, druckse ich herum, „irgendwie nicht. Ich meine, mit Kurzarbeit und Home-Office kriegt man ja schon mal einen Vorgeschmack darauf wie es ist, immer zu Hause zu sein …“, ich zögere, „… ehrlich gesagt, mir fällt ganz schön die Decke auf den Kopf. Und immer nur mit meiner Frau reden … also, versteh mich jetzt nicht falsch, …“, ich schaue meinen Nachbarn besorgt an, aber er lächelt nur verständnisvoll. „Na, jedenfalls freue ich mich schon richtig drauf, wenn ich bald wieder ganz normal in die Firma kann. Mir ist auch einfach langweilig“, beende ich meine Klage nachdrücklich.

„Und was hast du nun gelernt?“

„Na, dass ich eigentlich ganz gerne arbeite. Dass ich mich irgendwie nutzlos fühle ohne eine Aufgabe. Und tatsächlich, dass mir sogar der Smalltalk mit meinen Kollegen fehlt.“

„Verstehe ich“, sagt mein Nachbar, „hab ich schon von mehreren so gehört. Aber ist interessant. Dich wundert’s ja scheinbar auch.“

„Ja“, sage ich, „und weißt du was? Sogar die Kinder freuen sich, bald wieder in Schule zu dürfen. Das ist doch wirklich verrückt, oder?“

„Überhaupt nicht. Ich weiß gar nicht wieso das immer alle denken. Die meisten Kinder gehen eigentlich gerne in die Schule.“

„Ach so?“

Er nickt. „Das war’s jetzt aber“, sagt er, „oder hast du noch mehr?“.

„Eins noch“, sage ich.

Er schaut mich auffordernd an.

„Händewaschen“, sage ich ein bisschen verschämt.

Er lächelt skeptisch. „Du hast gelernt, dir die Hände zu waschen? Gratulation.“

„Na, zunächst habe ich mal gelernt, dass Händewaschen gegen Mikroorganismen, Bakterien und so hilft. Hätte ich nie gedacht. Ich dachte, Waschen ist gegen Schmutz. Sehe ich keinen Dreck, brauche ich auch nicht waschen.“ Ich sehe ihn neugierig an, was er dazu meint. Er sieht nachdenklich aus.

„Du hältst mich wieder mal für doof, was?“, frage ich schließlich.

„Nein, nein“, sagt er – ein bisschen zu schnell wie ich finde, „ich habe nur überlegt, ob ich ein bisschen über’s Händewaschen oberlehrern soll …“.

Ich sehe ihn misstrauisch an, er scheint das als Aufforderung miss zu verstehen.

„Na, vielleicht entlastet es dich auch ein wenig. Also pass auf: In den verschiedensten Religionen gibt und gab es ja seit …“, er überlegt, „ …na, vermutlich schon immer – Reinigungsrituale. Und rituelle Handlungen haben meist wohl etwas mit der Etablierung von Erfahrungswissen zu tun. Man wusste also irgendwie, dass es Leuten besser geht, die sich regelmäßig waschen, wusste aber nicht warum. Leider hat es diese Praxis nicht in den medizinischen Alltag geschafft. Nun ist Skepsis gegenüber religiösen Praktiken an sich ja zu begrüßen, hier war sie aber unangebracht. Hätte man nämlich grundsätzlich auf eine gewisse Reinlichkeit geachtet, hätten sicherlich unzählige Menschen deutlich länger gelebt.“

„Wieso das?“, frage ich neugierig.

„Aus vielerlei Gründen“, sagt er. „Ein schönes Beispiel ist die Geschichte von Dr. Semmelweis.“

„Lustiger Name“, sage ich.

Er nickt. „Ja. Also dieser Dr. Semmelweis war Mitte des 19. Jahrhunderts Gynäkologe in Wien. Und er fand es furchtbar, dass in seiner Geburtsklinik jede zehnte Frau starb.“ Er sieht mich an. „Kannst du dir das vorstellen? Eine von zehn Frauen starb, während sie im Krankenhaus war um ihr Kind zur Welt zu bringen.“ Er schüttelt den Kopf.

„Furchtbar“, sage ich, „aber ist ja auch schon ganz schön lange her“.

Er schaut verblüfft. „Solange nun auch nicht.“ Er überlegt. „Da hätte die Großmutter meiner Großmutter liegen können … so weit weg ist das nicht.“

„Das stimmt“, gebe ich zu.

„Jedenfalls gab es noch eine benachbarte Klinik und da starben nicht zehn, sondern nur zwei Prozent. Na ja, um es kurz zu machen: Er kam schließlich drauf, dass es an den Studenten lag, die in seiner Klinik ausgebildet wurden. Die eilten nämlich immer zwischen der Pathologie, wo sie an Leichen übten und der Wöchnerinnenstation hin und her – ohne sich dazwischen die Hände zu waschen.“

„Unglaublich“, sage ich ehrlich erstaunt.

„Ja, nicht wahr? Als er das dann einführte, sank die Sterberate auch deutlich. Man glaubte ihm allerdings nicht. Tatsächlich wurde er für seine Behauptung sogar ziemlich angefeindet. Die Idee, dass an den Händen irgendetwas Unsichtbares und Gefährliches hängen könnte, schien für seine Zeitgenossen völlig abwegig zu sein.“

Ich schüttle verständnislos den Kopf.

„Es dauerte dann bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, bis sich die konsequente Handdesinfektion in der ärztlichen Praxis durchzusetzen begann. Allerdings auch nicht so ganz durchgängig. Ich erinnere mich, es ist noch gar nicht so lange her …“, er überlegt, „na ja, zwanzig Jahre werden es doch schon sein, als das mit den Krankenhauskeimen so los ging. Da wurde die Hygiene in Krankenhäusern plötzlich ein Thema. Und als man das untersuchte stellte man fest, dass es vor allem die Chefärzte waren, die sich nie die Hände wuschen – war wohl unter ihrer Würde – und so die Keime von einem Patienten zum Nächsten trugen. Das ist heute aber sicher anders. Du siehst jedenfalls, du folgst mit deiner Herangehensweise einer langen Tradition.“ Er grinst mich an.

„Soll das etwa eine Anspielung darauf sein, dass ich mich gerne als konservativ sehe“, frage ich misstrauisch.

„Aber nein“, sagt mein Nachbar.

„Da bin ich ja froh“ sage ich skeptisch und füge an: „Ich hab aber noch was gelernt – und das hat mich wirklich verblüfft, nämlich dass ich mir die Hände gar nicht richtig wasche. Insofern hattest du recht, ich habe tatsächlich das Händewaschen neu gelernt.“

„Aha?“, sagt er fragend.

Ich schüttle den Kopf. „Ich hab mich mal beobachtet. Selbst wenn ich glaube, mir wirklich gründlich die Hände zu waschen – was ehrlich gesagt gar nicht so oft der Fall ist, mache ich das gar nicht.“

„Nicht?“.

„Nee“, sage ich. Ich bin jetzt ganz eifrig. „Es gibt eigentlich nur einen Finger, der dabei wirklich gut gewaschen wird und das ist mein linker Daumen. Der rechte, die Fingerspitzen und vor allem der Raum zwischen den Fingern bekommen kaum etwas ab. Höchstens zufällig. Ich muss mich total konzentrieren, um alle Teile richtig zu waschen. Hätte ich nie gedacht.“

„Das iss ja ´n Ding“, sagt mein Nachbar, „muss ich mal drauf achten“.

„Natürlich“, sage ich und ziehe leicht meine Augenbrauen nach oben, „sind meine Hände – selbst wenn ich sie nur kurz unter’s Wasser halte – trotzdem sauberer als deine Füße“, und schaue vielsagend nach unten. Mein Nachbar läuft bevorzugt barfuß durch seinen Garten – und das sieht man seinen Füßen an.

Er lacht. „Das ist ja auch keine Kunst, schließlich läufst du ja nicht im Handstand rum“.

„Auch wahr“, sage ich.