DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Streitkultur

Ich sehe meinen Nachbarn pfeifend im Garten Laub rechen und ringe noch mit mir, ob ich ihn ansprechen soll, da sieht er schon zu mir herüber, kommt strahlend auf mich zu und begrüßt mich: „Na alter Schwede, wie geht’s? Alles gut?“

Ich atme einmal tief durch, „Ja“, sage ich, „jetzt schon.“

„Wieso?“, fragt er, „Was ist denn?“

„Na, ich hatte Sorge wegen unseres Streits neulich … wir haben uns ja seitdem gar nicht gesehen … und ich dachte …“

„Was für ein Streit denn?“, unterbricht er mich.

„Na du weißt schon, letztens bin ich dich doch so hart angegangen, das tat mir hinterher total leid.“

„Ich kann mich wirklich nicht erinnern … ach doch, jetzt weiß ich was du meinst!“ Er schüttelt den Kopf, „aber das war doch kein Streit. Wir hatten lediglich unterschiedliche Ansichten und du hast deine wirklich hartnäckig verteidigt, das muss ich zugeben.“

„Ja, aber du warst ja auch total im Unrecht und wolltest das partout nicht einsehen.“

Er lacht, „das tue ich immer noch nicht. Aber deshalb bin ich doch nicht sauer. Obwohl,“ er zögert, „dass du mich einen verfluchten Oberlehrer nennst, der nicht zugeben kann, dass er falsch liegt – das hat mich schon getroffen.“

„Ich habe doch schon gesagt dass es mir leid tut“, sage ich zerknirscht, “der Oberlehrer hätte nicht sein müssen.“

„Nein, nein,“ sagt er, „der ist völlig berechtigt. Ich höre es zwar wirklich nicht gerne, aber ich kann es ja kaum abstreiten. Manchmal nenne ich mich sogar selbst so.“ Er grinst. „Aber nicht zugeben zu können, wenn ich mich irre …“ Er kneift die Lippen zusammen. „Ich habe sicher alle möglichen Fehler, aber Rechthaberei gehört nicht dazu. Jedenfalls nicht mehr. Und,“ er nickt bestätigend, „da bin ich ziemlich stolz drauf, das war nämlich eine ganze Menge Arbeit.“

Ich stutze. „Du meinst, früher hast du drauf beharrt recht zu haben, auch wenn du es besser wusstest – und dann hast du es dir irgendwann abgewöhnt? So wie das Rauchen?“

Er zieht eine Grimasse. „Ich hab nie geraucht.“

„Aber du weißt was ich meine.“

„Natürlich. Ja, ungefähr so. Und wie beim Rauchen – oder eigentlich wie bei allen schlechten Angewohnheiten – ist das Problem vor allem, sich erstmal einzugestehen, dass man ein Problem hat. In meinem Fall hieß das, ich musste erstmal bemerken, dass es mir in Diskussionen meist gar nicht darum ging, etwas tatsächlich zu klären – also zu schauen, wessen Argumente besser waren.“

„Sondern?“, frage ich und bereue es gleich. Ich will ihn nicht unterbrechen, er erzählt nur selten etwas von sich und das interessiert mich.

Er schaut mich an. „Na, mir ging es drum am Schluss als Sieger dazustehen. Selbst bei Themen die mir eigentlich völlig schnurz waren. Hauptsache, ich konnte meine Meinung raushauen und das letzte Wort behalten. Dafür habe ich die abwegigsten Argumente herangezogen, bin den anderen ins Wort gefallen und auch gerne mal persönlich geworden. Aber irgendwann fiel es mir auf.“

Ich grinse. „Dir fiel auf, dass manchmal andere Leute recht haben …? Ist ja auch wirklich verblüffend.“

„Nein“, sagt er und grinst ebenfalls, „mir fiel auf, dass ich ihre Argumente gar nicht an mich ran ließ. Es ging mir nämlich nicht darum, für ein Problem die beste Lösung zu finden, dazuzulernen oder die Ansicht meines Gegenübers zu verstehen. Nein, es ging mir nur drum, meine Meinung kundzutun. Und es reichte mir völlig, wenn mein Gegenüber einlenkte oder am besten überhaupt nicht widersprach. Aber so kommt man nicht weiter.“

„Und daraufhin hast du einfach mal den Mund gehalten, andere kamen auch mal zu Wort und konnten recht behalten.“

„Nee“, er schüttelt den Kopf, „das hilft ja genauso wenig. Wenn man dazulernen will, dann muss man streiten, man muss diskutieren! Man muss prüfen, ob die eigenen Argumente und Anschauungen standhalten und ob sie überzeugen können. Aber wenn sie es nicht tun, dann muss man auch bereit sein sie in Frage zu stellen und sie gegebenenfalls auch aufzugeben.“

Ich überlege. Ich denke an unzählige Pausen-Diskussionen mit meinen Kollegen, bei denen eigentlich gar nicht groß diskutiert wird, weil ja alle einer Meinung sind. Trotzdem wird immer wieder endlos über die gleichen Sachen hergezogen. Und wenn einer mal Zweifel äußert, dann wird er gleich von allen Seiten total überfahren. Andererseits sagen einige auch nie etwas … ob das wohl so ist, weil sie sowieso das gleiche sagen würden wie die anderen? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich haben sie nur keine Lust sich runtermachen zu lassen. Und denken sich ihren Teil. Ist mir auch schon so gegangen. So wie neulich, als ….. Meine Gedanken winden sich durch endlose Mittagspausen, betrachten die Wortführer unserer Gespräche und ihr Auftreten. Geht es vielleicht nur darum, Bestätigung für die eigene Ansicht zu bekommen? Wäre da Bereitschaft, die eigene Meinung zu revidieren? Aber soll ich denn meine Meinung einfach so aufgeben? Nur weil jemand anders mit besseren Argumenten daherkommt? Meine Meinung – das bin doch irgendwie ich. Die kann ich doch nicht wechseln wie ein Hemd. Andererseits, woher kommen eigentlich meine Meinungen? Zum Beispiel die über …

Ich schrecke aus meinen Überlegungen, weil meine Frau mir ganz sachte meine Strickjacke umhängt. „Na“, sagt sie und sieht mich nachdenklich an, „mein Traummann ist heute wohl eher ein träumender Mann“.

Ich bin noch ganz woanders und sehe mich suchend um.

„Er ist schon vor einer Weile reingegangen“, sagt sie. „Er hat mich angerufen und gesagt, dass ich mal nach dir sehen soll.“

Ich schaue zum Haus meines Nachbarn, er steht in seiner Werkstatt und sieht zu mir herüber. Er hebt die Hand. Ich tue es ihm gleich, nehme die Hand meiner Frau und gemeinsam gehen wir hinein.