DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

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Ich plaudere mit meinem Nachbarn über die vergangene Wahl, als mir plötzlich etwas einfällt: „Sag mal, haben sie dich auch angerufen?“

Er schaut mich irgendwie verzweifelt an, „Wer um alles in der Welt hat mich angerufen?“

„Na diese Umfrageleute. Mich haben sie am Samstag vor der Wahl angerufen.“

„Meinst du diese Typen die sich als Umfrage zur Altersvorsorge ausgegeben haben und einem dann eine Versicherung andrehen wollten? Da habe ich es wirklich bedauert, dass man keinen Hörer mehr hat, den man auf die Gabel knallen kann. Die …“

„Nein“, unterbreche ich ihn, „es war eine Wahlumfrage. Wo man politisch steht, wen man wählt und so.“

„Nö“, sagt er, „die haben mich noch nie angerufen. Ist ja interessant. Und, hast du mitgemacht?“, er sieht mich neugierig an.

„Ja, schon“, druckse ich herum. Mir gefällt die Richtung nicht, die unsere Unterhaltung jetzt zu nehmen droht. Ich sehe ihn an. „Aber ich finde das immer schwierig, zum Beispiel die Frage nach der politischen Richtung, was würdest du denn da sagen?“

„Hmm, das ist einfach: Ich sehe mich als liberalen“

„Wie bitte?“, unterbreche ich ihn, „du und die FDP? Das ist doch nicht dein Ernst.“

„als liberalen,“, fährt er ungerührt fort, „sozial orientierten Konservativen, dem Umwelt- und Friedenspolitik sehr wichtig sind.“

„Was soll das denn sein, bitte schön? Das geht ja in alle Richtungen gleichzeitig“, ich schaue ihn fragend an.

„Ja“, gibt er zu, „es macht das Wählen nicht unbedingt leichter. Aber so ist es eben.“

Mir fällt etwas ein. „Das erinnert mich an diese Verkehrsschilder die in Frankreich überall stehen: In alle Richtungen hier lang – die habe ich auch nie verstanden.“

„Ja“, nickt er, „die sind lustig. Funktionieren aber gut.“

„Aber das musst du mir erklären“, sage ich. „Was du da sagst, widerspricht sich doch total.“

„Für mich widerspricht sich das überhaupt nicht“, entgegnet er. „Ich glaube sogar, dass unheimlich viele Leute die gleiche – nun ja – Richtung haben. Das Problem ist eigentlich nur, dass es keine passende Partei gibt.“

„Also das einzige, von dem ich gewusst hätte, das du es nennst, ist das Thema Umwelt. Hätte mich jemand gefragt, hätte ich also gesagt, du bist wahrscheinlich ein Grüner. Wieso also auch noch liberal, sozial und konservativ? Du schimpfst doch immer auf die FDP.“ Ich überlege, „und eigentlich auch auf alle anderen.“

„Na ja“, beschwichtigt er, „ich schimpfe nicht auf alle und auch nicht auf alle gleich heftig.“

„Na dann erklär mal, wieso liberal?“

„Ganz einfach: Liberal kommt vom Wort Freiheit und mir sind die Freiheitsrechte wichtig. Wir geben dem Staat ja beträchtliche Macht – und damit bin ich völlig einverstanden – aber diese Macht darf nicht missbraucht werden und muss wirksam kontrolliert werden.“

Ich nicke, „dem wird wohl jeder zustimmen, aber ist das alles?“

„Ja, das meine ich mit liberal. Der Wirtschaftsliberalismus, den die heutigen angeblich Liberalen propagieren, ist eine Perversion der eigentlichen Idee. Hier wird die Freiheit auf jede beliebige Art Geld zu verdienen über alles andere gestellt. Widerlich.“

Ich überlege, „also soll der Staat dir verbieten können, so Geld zu verdienen wie du es möchtest? Das wäre aber doch eine Einschränkung der Freiheit, oder?“

Er schüttelt den Kopf. „Bei Freiheitsrechten geht es in erster Linie mal um die bürgerlichen Grundrechte, die hart erkämpft wurden: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Minderheitenschutz, Gleichberechtigung und so weiter …“, er schaut mich an. „Nicht darum, ob Unternehmen irgendein fragwürdiges Geschäftsmodell durchziehen können – denn beim Wirtschaftsliberalismus geht es nicht um Menschen, sondern um Unternehmen.“

„Hmm, na gut. Und was hattest du noch gesagt …?“, ich überlege, „ach ja, sozial und konservativ“, ich schüttle den Kopf, „das sind doch auch totale Gegensätze!“

„Das scheinen sie nur zu sein, weil bei uns eine Partei das Fähnchen ‚Konservativ‘ trägt und eine andere das mit ‚Sozial‘ drauf. Für mich widerspricht sich da gar nichts. Konservativ kommt ja von konservieren, also bewahren. Ich bin konservativ, weil ich das Gute in unserem System bewahren möchte – unter anderem soziale Errungenschaften die wir schon mal hatten. Heute werden die Reichen immer reicher und die Armen werden nicht nur ärmer, nein es werden auch immer mehr! Der Reichtum, den unsere Wirtschaft erarbeitet, der fließt in breitem Strom dahin, wo eh‘ schon zu viel ist.“

„Da würde ich dir sogar zustimmen“, nicke ich.

„Und ich bin auch konservativ, weil ich nicht finde, dass wir jedem neuen Trend sofort hinterherrennen müssen. Konservative Politik hätte uns zum Beispiel den Privatisierungswahn erspart. Dann wäre man hoffentlich nie auf die Idee gekommen, die Bahn an die Börse zu bringen. Es ist doch erbärmlich, was sie aus unserer Bahn gemacht haben …“, er schüttelt den Kopf. „Früher war ‚Pünktlich wie die Bahn‘ ein stehender Begriff – heute käme niemand mehr auf die Idee, das zu sagen, höchstens als Witz.“

„Ja“, sage ich nur. Da sind wir uns einig. Schließlich können wir uns alle paar Tage neue Geschichten über das Versagen der Bahn erzählen.

„Und nicht zuletzt“, fährt er fort, „möchte ich, dass die Natur bewahrt wird – und zwar in einem Zustand, in dem sie so vor etwa 60 bis 70 Jahren war. Also“, sagt er und sieht mich fragend an, „stimmst du mir zu, dass ich mich konservativ nennen kann?“

„Na ja“, sage ich, „ich habe das immer anders gesehen, mehr als so eine Einstellungsfrage. Du weißt schon, Familienbild und so …“, ich überlege, was noch dazu gehört, komme aber gerade nicht auf mehr.

„Ach so“, nickt er, „dass die Frau in die Küche gehört und die Männer das Sagen haben? So ungefähr? Und natürlich, dass zu einer richtigen Familie Mann und Frau gehören und nicht etwa zwei Männer oder zwei Frauen.“ Er sagt es sehr bestimmt.

„Na ja, ungefähr so“, ich nicke bestätigend, nur um gleich anzufügen, „nicht, dass ich das so sehen würde …“, ich zögere, „obwohl …“.

Er unterbricht mich: „Ist mir unklar, was daran nun besonders bewahrenswert sein soll, aber mit Politik hat das ja auch nur am Rande zu tun.“

„Na gut“, sage ich, „du bist also politisch konservativ, nicht gesellschaftlich.“

Er schaut mich überrascht an. „Gut gesagt“, nickt er zustimmend.

„Und was du mit sozial meinst, verstehe ich jetzt glaube ich auch“, sage ich. „Du findest, dass das Geld gleichmäßiger verteilt werden sollte. Habe ich das richtig verstanden?“, ich schaue ihn fragend an.

„Ist ein bisschen knapp, ist aber auch gut gesagt. Du wächst heute wirklich über dich hinaus!“ Er nickt anerkennend.

Ich überlege, ob ich jetzt beleidigt sein soll, aber er scheint es ganz ernst zu meinen. Ich nehme es mal als Kompliment.

„Aber sag mal“, er legt den Kopf schief und sieht plötzlich verblüfft aus, „wie hast du es denn geschafft, mich so viel erzählen zu lassen? Eigentlich wollte ich doch von dir was über diese Umfrage hören.“ Er schaut mich fragend an.

Ich überlege noch, was ich jetzt sage, da klingelt plötzlich sein Handy.

„Ach Mist!“, sagt er und wischt über das Display. „Ich muss rein, mich um meinen Kuchen kümmern. Erzähl’s mir ein andermal.“ Er winkt mir noch mal zu und geht in Richtung Haus.

Und ich bin ganz froh, für den Moment noch mal davongekommen zu sein.