DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Meinungsfindung

Weißt du“, frage ich meinen Nachbarn, „als du mich neulich einfach so im Garten hast stehen lassen ...“.

„Ja“, unterbricht er mich, „das sah wirklich bezaubernd aus. Du warst soo weit weg.“

„Ich war noch nicht fertig“, sage ich.

„Entschuldigung.“

„Na jedenfalls, als ich da so stand, habe ich über alles mögliche nachgedacht und habe mir die Frage gestellt, wie man eigentlich so auf die Meinungen kommt, die man zu allem Möglichen hat.“ Ich erinnere mich wieder daran, wie wild meine Gedanken an dem Tag umherschweiften.

„Interessante Frage“, nickt mein Nachbar. „Und?“

„Wie, und?“, frage ich zurück.

„Na auf welche Antwort bist du gekommen“, hakt er nach.

„Naja“, sage ich, „eigentlich kam ich nur auf die Frage … über die Antwort habe ich dann gar nicht nachgedacht“.

„Schade“, sagt mein Nachbar. „Aber dann mach doch jetzt mal.“ Er überlegt, dann sagt er: „Du glaubst doch nicht, dass wir was gegen die Erderwärmung tun müssen – wie kommst du da eigentlich drauf?“

„Hmm, gar nicht so einfach …“, sage ich und überlege. „Wahrscheinlich, weil die meisten Leute um mich herum das auch nicht glauben.“

„Du meinst, auf der Arbeit und beim Sport und so?“

„Genau“, sage ich.

„Aha, und du gibst viel auf deren Meinung, weil das kluge Leute sind?“

Ich überlege, „naja, ich weiß jetzt nicht, ob die besonders klug sind … ganz normal halt“.

„Hmm, dann haben sie sich intensiv mit dem Thema befasst und können das gut erklären?“, fragt er.

„Ja“, sage ich, „es wird schon immer mal irgendwas erzählt, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass da einer besonders intensive Nachforschungen angestellt hat. Es sind halt so Sachen, die man irgendwo liest, auf Zwitscher oder auf Facelift.

„Na“, sagt er, „das hört sich für mich jetzt noch nicht so an, als würdest du da besonders fundierte Meinungen als Basis für deine eigenen nehmen.“

„Da hast du wohl recht.“ Ich überlege, „ich glaube, ich bleibe vor allem deshalb bei meiner Ansicht, weil ich die Leute, die immer vor’m Klimawandel warnen, einfach nicht leiden kann“. Ich nicke bestätigend, das ist es.

„Danke.“ Sagt mein Nachbar beleidigt, „ich geh‘ dann mal“.

„Nein, dich meine ich doch nicht! Du weißt schon …“, sage ich.

Er schüttelt den Kopf. „Nein, weiß ich nicht.“

„Na, die Ökos, diese ganzen Gut- und Bessermenschen. Die einem immer alles verbieten wollen, auf alles muss man Rücksicht nehmen, auf alle möglichen Befindlichkeiten, aber einem selbst wird kein Spaß gegönnt und alles muss politisch korrekt sein. Die hab‘ ich gefressen. Was von denen kommt, das kann nix taugen.“

„Verstehe“, sagt mein Nachbar.

„Und außerdem sehe ich nichts vom Klimawandel. Das Wetter ist doch immer mal so und mal so. Und es gab auch immer mal heiße Zeiten auf der Erde und kalte.“

„So nicht“, sagt mein Nachbar, „keine Argumente für oder gegen. Wir wollten nur rauskriegen, woher deine Ansicht stammt“.

„Aber das sind doch Argumente, die meine Meinung stützen“, sage ich. „Darauf baue ich sie doch auf.“

„Nein“, sagt er. „Damit versuchst du, sie zu legitimieren. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du dich nach eingehender Beschäftigung mit dem Thema und gründlicher Abwägung verschiedener Ansichten und Argumente ganz bewusst für eine Seite entschieden hast, oder?“

„Nö, nicht direkt“, gebe ich zu, „aber was ich dann gehört habe, machte für mich Sinn und deshalb bleibe ich dabei“.

„Na gut“, sagt mein Nachbar, „lassen wir das einfach mal so stehen“. Er wiegt den Kopf hin und her. „Dann fasse ich das nochmal zusammen – und, damit du mich nicht missverstehst, ich bewerte das überhaupt nicht, es interessiert mich einfach, okay?“

„Klar“, sage ich, „nur zu“.

„Also“, fängt er an, „du hast die Ansicht zum Klimawandel übernommen, die die meisten Leute um dich herum haben und bleibst vor allem auch deshalb dabei, weil du die Gegenseite nicht leiden kannst“.

Ich überlege, „ja, aber auch weil ich häufig Sachen sehe, die das unterstützen. Also meine Meinung. Und in denen gezeigt wird, dass die Behauptungen der anderen Quatsch sind. Mit Diagrammen und allem. Und weil alle sagen, dass es denen gar nicht in erster Linie ums Klima geht, sondern dass das nur ein Trick ist. Eigentlich wollen die den Kapitalismus abschaffen.“

„Hmm“, sagt mein Nachbar, „da kommt ja doch noch ein bisschen was dazu. Ändert an dem, wie sich deine Meinung gebildet hat aber auch nichts. Es geht dir darum, was ‚alle sagen‘. Und die Sachen die du siehst, sind ja wahrscheinlich vor allem in den sozialen Netzen, kommen also auch von Leuten die du irgendwie kennst oder mit denen du im weitesten Sinne“, er zeichnet Anführungszeichen in die Luft, „befreundet bist“.

„Stimmt“, gebe ich zu. „Das findest du jetzt bestimmt ziemlich blöd von mir, oder?“

„Gar nicht“, sagt er. „Ich denke mal, dass das ganz normal ist – bei mir ist es auch nicht viel anders.“

„Im Ernst?“, sage ich erstaunt.

„Nö“, sagt er. „Vielleicht informiere ich mich ein bisschen mehr und vielleicht auch ein bisschen gründlicher, aber im Wesentlichen folge ich mit meiner Meinung auch nur einer Gruppe, der ich vertraue. Und genau wie du, kann ich die Gegenseite nicht leiden. Alles in allem also eine ziemlich ähnliche Kiste, oder?“ Er schaut mich fragend an.

„Aha“, sage ich. Ich bin verblüfft. „Und wer ist das bei dir?“, frage ich, „also wem traust du und wen kannst du nicht leiden?“.

„Ist das nicht klar?“, fragt er. „Ich traue den Experten. Und ich kann die nicht leiden, denen es grundsätzlich und immer nur um ihren Profit geht. Hier sind das in erster Linie mal die Kohle- und Erdölindustrie, die Kraftwerksbetreiber und die Finanzhäuser die da mit drinhängen. Aber das sind natürlich bei weitem nicht alle. Und bei so einer Ausgangslage erscheint es mir völlig eindeutig, wer mein Vertrauen verdient – da muss ich mich nicht in die Feinheiten von Klimamodellen oder in die Randbedingungen verschiedener Erdzeitalter vertiefen.“

„Und ich hätte gedacht, dass du dich da total reingekniet hast, um alles genau zu verstehen – so wie du mir das immer alles erklärst.“

„Wie soll das denn bitte gehen?“, fragt er. „Ich hab zwar eine naturwissenschaftliche Ausbildung, aber deswegen kann ich mich trotzdem nicht mal eben so in x Disziplinen in die Fachliteratur vertiefen und hoffen, irgendwas zu verstehen.“ Er schüttelt den Kopf. „Und wozu denn auch?“

„Wie“, frage ich, „wozu denn auch? Na, eben um’s zu verstehen! Um dir fundiert deine Meinung zu bilden.“

„Das sagt ja der Richtige“, grinst mein Nachbar. „Und wenn ich das nächste Mal in die Röhre geschoben werde, dann studiere ich erstmal die Technik der bildgebenden Verfahren, oder wie? Damit ich einschätzen kann, ob der Arzt das auch richtig macht. Und bevor ich das nächste Mal mein Navi benutze, bringe ich erstmal meine Kenntnisse in der Satellitentechnik auf den neuesten Stand. Wer weiß, ob das mit dem GPS alles so ist, wie die behaupten.“

„Das ist doch Quatsch“, sage ich. „Du übertreibst mal wieder.“

„Überhaupt nicht“, sagt er. „Ich sage nur, dass mir in unserer unglaublich komplexen Welt gar nichts anderes übrigbleibt, als Fachleuten zu vertrauen. Und wenn man mal die unglaubliche Situation hat, dass sich über die Fachbereiche hinweg, praktisch alle relevanten Experten einig sind, wieso sollte ich dann anderer Meinung sein?“ Er zeigt sich mit dem Finger auf die Brust.

„Aber es gibt doch auch Experten, die anderer Meinung sind“, beharre ich.

„Woher weißt du das?“, fragt er.

„Na, ich kriege immer mal so Zeug geschickt“, sage ich, „Videos, Textauszüge, Diagramme und Links zu Artikeln in denen bewiesen wird, dass das mit dem Klimawandel alles Quatsch ist. Ich habe einiges davon auch gelesen, das sind ganz wissenschaftliche Sachen, von anerkannten Experten.“

„Aha“, sagt mein Nachbar. „Du hast nach ihnen recherchiert, dir angeschaut für wen sie arbeiten, wer ihre Institute finanziert, wie ihr Ruf so ist und was sie noch so veröffentlicht haben?“

„Das nun nicht gerade“, sage ich. „Aber es sieht sehr wissenschaftlich aus und es klingt plausibel.“

Mein Nachbar lächelt mich ganz freundlich an. „Mein Lieber“, sagt er, „deine Aufrichtigkeit ehrt dich wirklich!“

Ich schüttle unwirsch den Kopf, was soll das denn jetzt?

„Leider“, sagt er, „ist das ein immer und immer wiederkehrendes Muster unter Druck stehender Industrien. Das war beim Tabak so, beim Zucker, bei allen möglichen Medikamenten, bei sogenannten Pflanzenschutzmitteln – übrigens eine geniale Frechheit, Gift so zu nennen – vermutlich bei unzähligen Produkten. Und es ist leider immer wieder erfolgreich.“

„Was denn“, frage ich verwirrt.

„Gegenpropaganda“, sagt er nur.

„Gegenpropaganda?“, frage ich zurück.

„Ja“, sagt er, „Propaganda gegen den Versuch etwas zu reglementieren. Es läuft so: An irgendeinem Produkt oder einer Technik kommt nach und nach Kritik auf. Besorgte Ärzte oder andere Fachleute wenden sich immer nachdrücklicher an die Öffentlichkeit. Sie präsentieren Studien, die ihre Befürchtungen stützen. Die Politik wird aufmerksam. Es entsteht ein gewisser Druck. Für die Manager der betroffenen Unternehmen hat es sich nun sehr bewährt, Gegengutachten erstellen zu lassen. Natürlich von angeblich unabhängigen Experten – aber natürlich sind sie das überhaupt nicht. Diese neuen Studien werden dann publiziert und man kann der Öffentlichkeit versichern, dass sich die Fachwelt da überhaupt nicht einig ist, man könne das so und so sehen. Genaueres könnten nur umfangreiche weitere Untersuchungen zeigen, man tue aber jetzt schon alles, um eventuelle Schäden von den Verbrauchern abzuwenden und so weiter.“

Ich nicke, das hört sich für mich sehr vertraut an.

„Das ist als Vorgehensweise der Tabakindustrie zum Beispiel mittlerweile ausgezeichnet dokumentiert“, fährt mein Nachbar fort. „Und wenn Fachleute dann diese Gegengutachten zerpflücken, dann macht das gar nichts. Denn das bekommt die Öffentlichkeit ja nicht mit, man kann das ganze weiterhin als Streit unter Experten bezeichnen. So können Jahre ins Land gehen in denen jegliche Regulierung verhindert wird und Tag für Tag werden die fraglichen Produkte weiter verkauft und spülen Geld in die Kassen.“

Mein Nachbar sieht ungewöhnlich ärgerlich aus, richtig zornig. Aber dann grinst er plötzlich.

„Aber vor ein paar Tagen bin ich auf ein etwas anders gelagertes Beispiel gestoßen“, sagt er, „das ist auch interessant“.

„Aha“, sage ich, „was denn?“

„Es ist vor kurzem bekannt geworden, dass die amerikanische Erdölindustrie schon in den 70er und frühen 80er Jahren von sich aus eigene Untersuchungen zu den globalen Auswirkungen des ständig steigenden Verbrauchs von Erdölprodukten gemacht hat.“

„Ist ja ´n Ding“, sage ich. „Aber da ist wohl nichts Besorgniserregendes rausgekommen, nehme ich an, oder?“

„Im Gegenteil“, grinst mein Nachbar, „sowohl der CO2-Anstieg in der Atmosphäre, als auch die Temperaturentwicklung wurden ziemlich akkurat vorhergesagt. Die Wissenschaftler haben auch deutlich gemacht, dass es zu einer bedrohlichen Erwärmung kommen wird“.

„Sieh mal einer an“, sage ich, „aber da habe ich noch nie was von gehört“.

„Du nicht und auch sonst niemand. Man ließ die Berichte nämlich verschwinden. Aber man blieb nicht völlig untätig, zum Beispiel wurden Bohrplattformen die im Eis stehen sollten, stärker ausgelegt – weil man davon ausging, dass das Eis schmelzen wird. Und man startete eine Imagekampagne für Erdölprodukte. Die beteiligten Wissenschaftler sollen ziemlich entrüstet gewesen sein.“

„Kann ich mir vorstellen“, sage ich.

„Übrigens“, sagt mein Nachbar, „einiges von dem, was damals in dieser Pro-Erdöl-Kampagne publiziert wurde, wird wohl auch heute noch von den Klimaleugnern verwendet – war wahrscheinlich sehr gut gemacht. Sehr wissenschaftlich. Vermutlich hast du schon einiges davon gesehen.“

Ich sage nichts.

„Naja“, sagt er und hebt zum Abschied die Hand, „so hat halt jeder seine Ansicht. Gott sei Dank geht‘s ja um nichts Wichtiges.“