DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Lesezeichen

Hast du gehört? Die Buchstabenmenschen wollen jetzt gelesen werden.“

„Du sprichst wie immer in Rätseln“, sagt mein Nachbar kopfschüttelnd. „Buchstabenmenschen? Gelesen? ... Wobei, natürlich liest man Buchstaben ... aber was sind Buchstabenmenschen?“

„Na du weißt schon“, sage ich. „Diese Q, B, L ... Ach, was weiß ich, diese Genderfuzzis eben.“

Er runzelt die Stirn, dann sagt er plötzlich: „Jetzt verstehe ich! Du meinst die ... hmm, stimmt, das ist tatsächlich schwierig ...“. Er zögert. „Gemerkt hatte ich mir mal LGBT ... aber dann kam wohl noch ein Q dazu ... obwohl, ich glaube, ... mittlerweile schreibt man auch noch ein Pluszeichen dahinter.“ Er überlegt angestrengt.

„Gib dir keine Mühe“, sage ich. „Ist es nicht wert. Ist sowieso alles Blödsinn.“

Er runzelt die Stirn und sieht plötzlich ziemlich missmutig aus, sagt dann aber sehr bestimmt: „Da habe ich jetzt keine Lust drauf.“

„Was soll das denn heißen?“ frage ich verblüfft.

„Na, dass ich darüber jetzt nicht mit dir reden möchte.“

„Aha!“, sage ich triumphierend. „Weil du meinst eigentlich dafür sein zu müssen! Andererseits weißt du aber, dass es Blödsinn ist und du es nicht verteidigen kannst. Und weil du es nicht erträgst eine Diskussion zu verlieren, willst du dich lieber gar nicht erst drauf einlassen.“

Mein Nachbar schaut mich fassungslos an und ich genieße das Gefühl, ihn so leicht durchschaut zu haben.

„Naja, verstehe ich sogar“, sage ich großmütig. „Niemand gibt gerne zu, dass die eigene Seite Schwachsinn verzapft.“

Er lächelt ungläubig und sagt nach kurzem Nachdenken: „Es verhält sich etwas anders als du annimmst ... aber wie gesagt, ich möchte nicht über dieses Thema reden.“

„Und warum nicht bitte schön?“

Ich würde ganz gerne mal in einer Diskussion mit ihm die Oberhand behalten und bei diesem Genderirrsinn kann meiner Ansicht nach nicht viel schiefgehen. Oder wir wären ausnahmsweise mal einer Meinung, was auf eine Art auch schön - und mir eigentlich sogar noch lieber wäre.

„Ich möchte nicht darüber reden, weil es ein vergiftetes Thema ist und", er überlegt einen Moment, „ ... ja, und auch, weil ich eine hohe Meinung von dir habe und das so bleiben soll.“

Ich schaue ihn irritiert an. „Vergiftet?“

Er nickt. „Über die Menschen die sich zu dieser Gruppe zählen ...“

„Die Genderfuzzis“, werfe ich ein.

Er schließt für einen Moment die Augen, atmet einmal tief ein und sagt dann: „Wenn du meinst, sie so nennen zu müssen.“

Ich nicke nachdrücklich.

„Über diese Menschen jedenfalls“, fährt er fort, „wird in übelster Weise hergezogen. Sie werden verspottet, beschimpft und bedroht. Verbales Gift wird kübelweise über sie ausgeschüttet. Von ...“, er macht eine Pause, setzt an etwas zu sagen, macht nochmal eine Pause und sagt schließlich „... Leuten, die in keiner Weise betroffen sind, auch keine Betroffenen kennen und meist nicht die geringste Ahnung vom Thema haben.“

„Du wolltest Idioten sagen, stimmt's?“

Er schaut mich nachdenklich an und sagt schließlich: „Stimmt. Aber ich habe es nicht gesagt.“

„Aber du wolltest. Und darauf kommt's an. Weil es das ist, was du wirklich denkst.“

Er legt den Kopf leicht schief und sieht mich lächelnd an. „Bitte“, sagt er, „wenn das deine Vorstellung von wünschenswertem Verhalten ist ...“ Er zuckt die Achseln. „Ich finde es eigentlich ganz okay, nachzudenken bevor ich was sage und Beleidigungen dann doch lieber runter zu schlucken. Macht das Miteinander angenehmer.“

„Ist aber eben nicht deine wirkliche Meinung“, beharre ich.

Er hebt die Augenbrauen, als wolle er sagen: Na und?
Tatsächlich sagt er: „Da hab ich einen kleinen Vers für dich. Keine Sorge, ist nicht von mir.“ Er überlegt noch einen Moment, richtet sich übertrieben auf und sagt mit großer Geste:

Ihr habt da etwas falsch verstanden, zu meinem Verdruss.
Meinungsfreiheit heißt, dass man seine Meinung sagen kann - nicht, dass man es muss.

Uups, denke ich. Das saß.

Er lächelt mich freundlich an und sagt dann: „Ist das nicht hübsch? Und so treffend, oder? Aber ich will mich ja nicht völlig verweigern, erklär mir doch mal, wer da wie gelesen werden will.“

„Na, ich habe bei Fecebook so ein paar Sachen gesehen“, sage ich, „zum Beispiel über Frauen die sich nicht als Frauen fühlen und deshalb nicht als solche“ - ich zeichne Anführungszeichen in die Luft - „gelesen werden wollen. Obwohl sie so aussehen. Oder umgekehrt. Also Männer, die wie Frauen aussehen ... ach was weiß ich. Die denken sich irgend was aus was sie sind und wir sollen für sie alles auf den Kopf stellen.“

Mein Nachbar nickt leicht mit dem Kopf, schaut in die Bäume hoch und murmelt: „So, so. Bei Fecebook.“

„Ja“, sage ich schnell, „aber das waren richtige Zeitungsartikel, aus ...", fast hätte ich 'aus ganz seriösen Zeitungen' gesagt, aber ich korrigiere mich noch zu „... aus der Mainstreampresse“.

„Aha. Und was genau ist nun dein Problem damit? Wenn das doch sowieso alles Quatsch ist?“

„Ist es auch“, sage ich. „Die sollen sich von mir aus sonstwas einbilden, was sie sind oder nicht sind. Aber sie sollen die Finger von der Sprache lassen. Die ist perfekt wie sie ist. Da braucht keiner dran rum zu murksen.“

„Es ist immer wieder verblüffend“, sagt er und klingt zugleich belustigt und genervt, „worüber du dich so aufregen kannst“.

„Das gehört alles zu dieser furchtbaren Sprachverhunzung“, sage ich, „die mit diesem ganzen Genderquatsch einhergeht. Gelesen werden Texte, sonst nichts. Man kann doch nicht einfach ein ...“, ich zögere ...

Er sieht mich fragend an, „Verb?“ Und fügt dann an: „Oder, falls dir das besser gefällt: Tu-Wort. So hab ich das noch in der Schule gelernt. Find ich immer noch schön.“

„Bei mir hieß es Tätigkeitswort. Fand ich auch besser.“

„Ja. Kann man sich was drunter vorstellen. Aber was wolltest du eigentlich sagen?“

„Ach ja. Na, dass man doch nicht einfach ein Verb, also 'Lesen', mit einer neuen Bedeutung belegen kann.“

Mein Nachbar verdreht die Augen und sagt: „Es ist nun wirklich nicht soo ungewöhnlich, dass Begriffe neue Bedeutungen bekommen. Das passiert immer, wenn irgend etwas Neues benannt werden muss. Dann bürgert sich dafür meist ein Begriff aus dem vorhandenen Wortschatz ein. Aber das ist hier noch nicht mal der Fall ... das Wort lesen wird ganz häufig in diesem Sinne verwendet, nämlich als 'interpretieren' oder 'einschätzen'. So was.“

„Quatsch“, sage ich. „Nur Lesen ist Lesen.“

Er atmet einmal tief durch und sagt dann: „Hundetrainer erzählen ihren Kunden ständig, dass sie lernen müssen ihren Hund zu lesen. Damit meinen sie, du musst erkennen was in ihm vorgeht. Ein Reitlehrer wird dir sagen, du musst dein Pferd lesen: Wo schaut es hin, was machen seine Ohren. Outdoorleute lesen den Wald und das Wetter, Kletterer lesen den Berg ... alle lesen das, womit sie sich beschäftigen.“

„Meinetwegen“, sage ich, nachdem ich mir das kurz durch den Kopf gehen ließ, wo mich leider gleich der Fährtenleser ansprang. „Aber doch keine Menschen“, beharre ich, „man liest keine Mensch ...“ Ich stoppe abrupt. Verdammt.

Er sieht mich besorgt an. „Was ist los? Hast du Zahnschmerzen?“

„Nein“, sage ich und versuche meine Gesichtszüge wieder in ihre normale Position zu bringen, „mir ist nur etwas eingefallen“.

„Was Wichtiges? Hast du was vergessen?“

„Nee.“ Ich zögere. „Wegen dem, worüber wir gerade geredet haben.“

„Und ...?“

„Naja, als ich damals anfing im Verein zu spielen, da tat ich mich auf Wettkämpfen immer ziemlich schwer ... Ich war technisch eigentlich ziemlich gut, verlor aber oft gegen Jungs, die ich eigentlich von der Platte hätte putzen müssen.“

„Aha“, sagt er verständnislos.

„Das Problem war, dass ich immer nur mein Ding gemacht - immer gleich gespielt habe. Heute würde ich sagen, dass ich mich nicht auf meine Gegner eingestellt habe. Jedenfalls hat mein alter Trainer da irgendwann zu mir gesagt, Junge, hat er gesagt, du musst deinen Gegner ...“, ich zögere und verziehe das Gesicht, „... lesen. Wie ein Buch: Was ist er für ein Typ, was sind seine Vorlieben, was sind seine Schwächen, so etwas ... Lerne die Leute einzuschätzen und dann richte dein Spiel danach aus.“

„Du brauchst gar nicht so zu grinsen“, fahre ich meinen Nachbarn wütend an, „das ist was völlig ... nee, eigentlich nicht, oder?“

Er zuckt die Achseln.

„Scheint mir jetzt nicht so grundverschieden zu sein. Außer dass deine Gegner an der Platte lieber falsch eingeschätzt werden würden und die mit den komplizierteren Geschlechterfragen eben nicht.“

„Von mir aus“, grummle ich. „Aber du musst doch zugeben, das 'Lesen' an der Stelle ein blödes Wort ist. Die könnten doch auch sagen, dass sie anders ... was weiß ich ... gesehen werden wollen. Dann hätte sich niemand aufgeregt.“

„Man regt sich über alles auf, was von ... denen - wie du es nennst, kommt. Dann hätte es geheißen: Jetzt wollen sie uns auch noch vorschreiben was wir zu sehen haben."

„Da hast du wahrscheinlich recht“, gebe ich zu. „Aber lesen ...“, ich schüttle den Kopf.

„Ich weiß ja nichts darüber“, sagt mein Nachbar, „aber vermutlich hat es doch nur irgendwo irgendjemand einmal so gesagt“.

„Nein, nein“, werfe ich ein, „das tauchte plötzlich überall auf“.

„Aber“, fährt er unbeirrt fort, „je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir das Wort eigentlich.“

„Dann kann ich dich ja künftig auch lesen“, sage ich spitz, „und zwar als Spinner“.

„Ich sehe“, sagt er freundlich, „ich bin ein offenes Buch für dich. Aber mal ernsthaft: Was macht man denn beim Lesen? Man entlockt rätselhaften Symbolen ihre verborgene Bedeutung. Oder, da wo's nicht um Text geht, versucht man zu erkennen, was bestimmte An-Zeichen oder Verhaltensweisen bedeuten.“

„Häh?“

„Na zum Beispiel bei Hunden“, sagt er. „Ich habe mein halbes Leben welche gehabt und mich von klein auf für sie interessiert - aber ich lerne immer noch was Neues. Und dauernd merke ich, wie schlecht ich sie doch immer noch verstehe. Wie schlecht ich sie 'lesen' kann.“

„Quatsch“, entgegne ich, „was soll das sein, fishing for compliments? Du hast deine Hunde doch super im Griff.“

„Nein. Und ich hab die Hunde sicher nicht im Griff - das will ich auch gar nicht.“ Er überlegt. „Pass auf, ich geb dir ein Beispiel, das hast du auch schon erlebt: Wenn ein Hund sich ein Stück entfernt hat und ich ihn mehrmals rufen muss bis er kommt ...“.

„Das habe ich in der Tat schon erlebt“, sage ich grinsend.

„Wenn er dann wiederkommt, leckt er sich meist kurz über die Lefzen.“

„Wahrscheinlich weil er was gefressen hat, sich daran erinnert und denkt: Hmm, war das lecker.“

„Ja,“ nickt er, „könnte man meinen. Stimmt aber nicht. Es ist eine Beschwichtigungsgeste. Es heißt: 'Sei mir nicht böse'. Wenn ich mehrmals rufe, ist ja jeder Ruf ein wenig schärfer. Der Hund registriert das und entschuldigt sich mit dieser Geste - besser gesagt signalisiert er, dass er nicht meine Autorität in Frage stellt.“

„Nützt halt nur nix, wenn's keiner versteht“, sage ich.

„Genau“, sagt mein Nachbar, „es ist eine Hundegeste. Hunde verwenden sie untereinander. Seit ich es verstanden habe, sehe ich es dauernd.“

„Und was machst du dann?“, frage ich. „Leckst du dir auch über die Lippen?“

Er grinst. „Das hättest du wohl gerne. Nein, ich wende mich einfach ab und mache genau ... nichts. Damit ist die Sache für uns beide erledigt.“

„Das ist interessant“, sage ich. „Aber was hat das mit den Buchstabenmenschen zu tun?“

Er schaut mich mit hochgezogenen Brauen an und überlegt offensichtlich, ob er auf meine kleine Provokation eingehen soll, sagt dann aber: „Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht mal, ob sie 'Lesen' wirklich so verwenden. Wahrscheinlich wird da ja wieder mal nur eine neue Sau durch deine Blase getrieben.“

Ich schüttle energisch den Kopf, bin mir aber gleichzeitig ziemlich sicher, dass in einigen Tagen keine Rede mehr davon sein wird.

„Aber“, fährt er fort, „wenn Menschen das wirklich bewusst so verwenden, dann wollen sie damit vielleicht sagen: Schaut doch bitte ein bisschen genauer hin und steckt uns nicht gleich in die erstbeste Schublade.“ Er überlegt kurz und fügt noch an: „Ist eigentlich genau das, was wir alle gerne hätten - als Individuum gesehen zu werden.“

„Mich sieht auch keiner als Individuum“, sage ich finster und denke an den ganzen Mist, den ich mir heute in der Firma wieder anhören musste.

„Doch, ich“, sagt er fröhlich. „Du bist ganz klar mein Lieblingsnachbar. Und wo wir gerade beim Lesen waren: Ich hab da noch eine Flasche von diesem süffigen Rotwein, der muss bald mal getrunken werden ... hast du Lust? Heute Abend?“

„Immer“, sage ich. „Aber was hat das mit Lesen zu tun?“

„Den haben wir doch“, sagt er und geht ein ein bisschen hinter einem Baum in Deckung, „von der Wein-lese mitgebracht“.