DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Basics

Schon komisch mit diesem Virus, was?“, frage ich meinen Nachbarn.

Er nickt. „Kann man wohl sagen. Von einem Tag auf den andern steht die Welt Kopf. Unglaublich.“

„Ja. Und das Unglaublichste ist, dass die Leute das alles so mitmachen! Sonst gibt es wegen jeder kleinen Einschränkung ein riesen Geschrei – und jetzt: Nix. Das halbe Land wird runtergefahren, du sollst zu allen Leuten zwei Meter Abstand halten, am besten ganz zu Hause bleiben, alle Kinder bleiben plötzlich zu Hause, keine Veranstaltungen mehr, keine Reisen … ja sogar das Klopapier wird rationiert. Und keiner meckert. Unfassbar.“ Ich schüttle den Kopf.

„Ja“, sagt mein Nachbar, „das ist wirklich erstaunlich, aber ein paar andere Sachen finde ich eigentlich noch viel interessanter“.

„Ach so, was denn?“, frage ich.

Er überlegt. „Da gibt es so vieles, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll …“, er zögert. „Was ich ganz grob zusammenfassend sagen kann ist folgendes:“, er holt tief Luft, „Wenn ich auch nur ein bisschen religiös wäre, dann würde ich sagen, ‚Gott gibt uns eine letzte Chance, uns darauf zu besinnen, was wirklich wichtig ist‘.“

„Wie,“, sage ich ungläubig, „wir sollen wieder mehr in die Kirche gehen oder was? Aber die sind doch jetzt auch geschlossen.“

„Ich glaube nicht, dass es den Schöpfer des Universums interessiert, ob wir uns in kultischen Protzbauten versammeln. Nein. Ich meine, was im Leben von Bedeutung ist und was für die Menschheit im Ganzen wichtig ist.“

„Jetzt verstehe ich“, sage ich, „du meinst, wir sollen uns daran erinnern, dass Gesundheit das Wichtigste ist“.

Er wackelt mit dem Kopf. „Das gehört mit dazu, aber ich meine es ein bisschen umfassender: Wir könnten doch zum Beispiel merken, dass eine es gute Idee wäre, die Lebensumstände auf diesem wunderbaren Planeten so zu gestalten, dass wir Menschen hier jederzeit gut und sicher leben können. Schließlich lauert hinter Corona ja schon die nächste Katastrophe.“

„Lass mich raten“, sage ich, „du spielst wiedermal auf die Erderwärmung an“.

„Korrekt“, sagt er. „Wir sehen gerade, was für einschneidende Maßnahmen erforderlich sind, wenn wir unvorbereitet und erst in allerletzter Minute auf eine Bedrohung unserer Lebensgrundlagen reagieren“.

„Hmm“, sage ich, „ich lasse es mir durch den Kopf gehen. Okay, das war jetzt wahrscheinlich Gottes Ratschlag an die Menschheit als Ganzes …“.

Er nickt lächelnd.

„ … und was noch?“.

„Na, unter anderem zeigt uns der Virus auch, wer in einer Gemeinschaft wirklich von Bedeutung, ja sogar unverzichtbar ist und entsprechende Wertschätzung verdient.“

„Ärzte“, sage ich, „also doch Gesundheit“.

„Ja“, sagt er, „die auch, aber die Ärzte haben ja bei uns ja wirklich kein Anerkennungsproblem. Nein, ich meine zum Beispiel Verkäuferinnen. All die Leute, die in den Supermärkten dafür sorgen, dass immer alles griffbereit ist für uns. Natürlich auch die in den ganzen Lieferketten dahinter, vor allem die LKW-Fahrer, die ihr Leben auf dem Bock und auf Parkplätzen verbringen. Aber im Supermarkt wird es sehr deutlich: Stell dir vor, die wären plötzlich krank. Unser einziger Supermarkt wäre zu.“

„Das wäre echt übel“, sage ich erschrocken.

Er nickt. „Und plötzlich wird einem auch deutlich bewusst, wie sehr wir auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen sind: Leute die den Müll abholen, das Internet am Laufen halten, für Wasser und Strom sorgen, sich um’s Abwasser kümmern, die Postboten, die Auslieferungsfahrer und und und. All die Dinge, die wir immer für selbstverständlich halten und die in der Regel eher mies bezahlt sind. Von gesellschaftlicher Anerkennung ganz zu schweigen.“

Ich nicke. „Da hast du eigentlich recht.“

„Und ganz, ganz grundlegend: Was horten plötzlich alle?“

„Klopapier!“, platzt es aus mir heraus.

Er lacht. „Stimmt, ich begreife einfach nicht warum. Bei manchen Leuten muss die Sorge, irgendwann kein Klopapier mehr zu haben, irgendwas triggern. Ich meinte aber was anderes: Essen. Grundnahrungsmittel.“

„Das auch“, gebe ich zu.

„Den Menschen wird richtigerweise bewusst, dass alles Mist ist, wenn man nix zu essen hat. Aber würdest du sagen, dass Bauern und Erntehelfer bei uns in hohem Ansehen stehen?“.

Er beantwortet seine Frage gleich selbst: „Wohl kaum. Statt dessen lassen wir zu, dass sie von Einzelhandelsketten geknechtet werden. Wir lassen eine Entwicklung zu, die jedes Jahr hunderte Bauern zum Aufgeben zwingt. Weil sie von ihrer Arbeit einfach nicht leben können. Wir lassen zu, dass unsere Lebensmittel unter absurden Bedingungen erzeugt werden.“

„Das hat jetzt aber wirklich nichts mit Corona zu tun“, sage ich.

„Nein“, sagt er. „Ich sage doch nur, dass der Virus uns auf einige grundlegende Dinge aufmerksam machen kann.“

„Stimmt“, sage ich, „ich hatte nur mal wieder den Faden verloren“.

„Und wir könnten auch die Bedeutung der Menschen erkennen, die sich um andere kümmern. In jedem Krankenhaus und jeder Praxis kommen auf einen Arzt zig Schwestern und Pfleger, deren Arbeit genauso wichtig ist. Sie sind Infektionen ständig und direkt ausgesetzt – aber wir haben nicht mal genug Schutzkleidung für sie. Und all die Eltern, die plötzlich ihre Kinder den ganzen Tag zu Hause haben, merken jetzt vermutlich, was sie eigentlich an Lehrern haben und am Personal in Horts und Kitas. Und so weiter.“

Ich bin ziemlich zerknirscht. „Das stimmt“, sage ich.

„Und“, fügt er nach einer kleinen Pause an, „es fällt mir schwer es zuzugeben, aber es muss sein: Wir merken auch, wie wichtig kompetentes Führungspersonal in der Politik ist.“

Ich schaue ihn fragend an.

„Na ja“, sagt er, „wie du weißt, habe ich weder von der Kanzlerin, noch vom Gesundheitsminister bisher besonders viel gehalten, aber sie machen gerade einen guten Job. Nicht nur sie, aber sie stehen jetzt natürlich im Rampenlicht. Es gibt klare, unaufgeregte Stellungnahmen. Expertenmeinungen werden eingeholt und erläutert, nachvollziehbare Maßnahmen werden angekündigt und durchgesetzt. Und ich denke“, fügt er an, „das ist auch der Grund, warum es alles in allem so ruhig und geordnet abläuft“.

„Ist das denn nicht überall so?“, frage ich.

„Das weiß ich nicht“, sagt mein Nachbar. „Da kümmere ich mich auch nicht drum. Was ich aber mitkriege sind die USA. Und wie nicht anders zu erwarten, ist dieser orange Clown eine Katastrophe. Nachdem er Corona zuerst völlig heruntergespielt hat – schließlich ist er ja Experte für alles, hat er’s jetzt natürlich als erster gewusst, dass das eine gefährliche Pandemie wird. Naja, Trump halt.“

Er zuckt die Achseln. „Aber immerhin ist es um unsere populistischen Schreihälse, die immer nur gegen alles sein können, momentan erfreulich still geworden. Ich habe die kleine Hoffnung, dass sich jetzt ein paar ihrer Wähler fragen, ob sie wirklich diese kompetenzlosen Gestalten in verantwortlichen Positionen sehen wollen.“ Er schüttelt den Kopf. „Aber da will ich mich jetzt gar nicht mit befassen, wir waren ja bei den wirklich wichtigen Dingen.“

„Stimmt“, sage ich, „du wolltest mir Gottes großen Plan erläutern“.

Er schaut mich stirnrunzelnd an.

„War nicht ernst gemeint“, sage ich schnell. „Was ist los, ist dein Ironiedetektor kaputt?“

„Der klemmt immer ein bisschen, weißt du doch. Okay, Gottes großer Plan also.“ Er holt tief Luft, „Punkt 1 war: Den Planeten in einen guten Zustand versetzen und erhalten.“

„Vorbeugende Wartung sozusagen“, sage ich. „Wie beim Auto.“

„Ja“, sagt mein Nachbar, „hübscher Vergleich – bloß dass wir zur Not nicht einfach eine neue Erde kaufen können. There is no planet B, wie die Schüler nicht müde werden, uns zu erinnern.“

Da sage ich nichts zu, er will mich nur ärgern. Er weiß, dass ich von diesen Demos nichts halte.

„Punkt 2:“, fährt er fort, „Wir könnten bemerken, dass viele Menschen, denen für ihre Arbeit eigentlich eine Menge Anerkennung gebührt, diese nicht erhalten. Eher im Gegenteil. Wir könnten also unsere Prämissen ändern. Momentan steht bei uns wirtschaftlicher Erfolg über allem. Der Wert von allem wird nur in Geld gemessen. Es ist der Maßstab für alles – auch für den Wert der Menschen: Wenn du viel verdienst, bekommst du Anerkennung. Womit du es verdienst, ist egal. Wir könnten statt des wirtschaftlichen Erfolgs aber auch das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen.“

„Hmm“, sage ich, „ich dachte immer, wirtschaftlicher Erfolg wäre an sich gut für’s Gemeinwohl“.

Er schaut mich prüfend an. „Pass auf“, sagt er, „die Wirtschaftsdiskussion führen wir ein andermal, okay? Die passt gut zu unserer Milliardärsdebatte, da ist ja auch noch einiges offen.“

Ich nicke. „Ist recht.“

Er überlegt, „ganz kurz vielleicht noch das, weil es mir gerade einfällt: Es wird ja immer mal wieder von den Leistungsträgern dieser Gesellschaft geredet und dass die unbedingt entlastet werden müssen; die Politiker des gelben Lagers tun sich da immer besonders hervor. Ich finde, diese Krise macht deutlich, wer die wirklich unverzichtbaren Leistungsträger sind.“

Ich nicke. „Der Begriff hat mich irgendwie immer schon geärgert. Ich war da auch nie mitgemeint.“

Er grinst.

„Wieso grinst du so?“

„Wegen mitgemeint. Erklär ich dir ein andermal.“

Ich runzle die Stirn und denke, ‚was das wohl wieder gibt …?‘

Er fährt fort, „Punkt 3: Wir könnten merken, wie gut es uns tut, solidarisch zu sein und aufeinander achtzugeben.“

„Du meinst“, sage ich, „für die Nachbarn einkaufen und so? Nicht den anderen alles weghamstern?“

„Das auch“, nickt er. „Aber man kann es auch noch ein bisschen weiter drehen: zum Beispiel verlieren unglaublich viele Menschen gerade ihr Einkommen, weil das öffentliche Leben zusammenbricht. Musiker, Schauspieler, die Leute in der Gastronomie – ich bin gespannt, ob es in ein paar Monaten noch Kinos und Theater gibt und wieviele Kneipen und Restaurants überlebt haben. Sportstudios, Reisebüros, alle Arten von Läden und und und.“

„Das ist wahr“, sage ich, „da hab‘ ich überhaupt noch nicht dran gedacht. Aber was soll man da tun?“.

„Solidarisch sein. Jeder Einzelne und der Staat als ganzes. Zum Beispiel haben wir Karten für ein Jazzkonzert nächste Woche, das fällt natürlich aus. Wir könnten uns das Geld erstatten lassen, müssen wir aber ja nicht. So leisten wir einen kleinen Beitrag zum Überleben der Musiker und des ganzen Drumherums.“

„Aber die haben doch jetzt gar nichts … wie soll ich sagen … geleistet?“

„Na und? Ich möchte die, wenn alles vorbei ist, doch auch wieder hören. Ich mag die Band. Also helfe ich ihnen. Wo ist das Problem? Das Geld ist doch eh schon weg. Außerdem werde ich mir ein paar ihrer CDs kaufen und zwar direkt bei ihnen – da bleibt das meiste bei ihnen hängen.“

„Jetzt verstehe ich, was du mit Solidarität meinst. Sozialhilfe für deine Lieblingsband.“

Er lacht, „so ungefähr“.

„Und“, sage ich, „willst du unserem Wirt auch ein Fass Bier abkaufen? Er hat jetzt ja auch zu.“

„Nee“, sagt er, „was soll ich mit einem Fass Bier. Aber ich hab tatsächlich überlegt, was wir für ihn tun können … vielleicht ein Darlehen, das wir dann nach und nach abfuttern oder so“.

„Das würde mir gefallen“, lache ich, „dann steht zur Abwechslung er mal bei uns in der Kreide“.

„Genau“, sagt mein Nachbar. Und wird dann wieder ernst. „Leider wird das natürlich alles nicht reichen. Damit hier nicht unzählige Existenzen ruiniert werden und Strukturen verschwinden, die dann kaum wiederherzustellen sind, muss der Staat einspringen. Und es sieht ja auch so aus, als würde er das tun.“

Ich sehe ihn an, sehe wie sehr ihn das alles umtreibt. Das kann jetzt noch ewig so weitergehen, deshalb sage ich: „Ich unterbreche dich ja nur ungern, aber die Sonne ist jetzt schon eine Weile weg, du zitterst und deine Nase läuft – lass uns reingehen und nachher weiterreden. Wäre wirklich Quatsch, sich jetzt zu erkälten.“

„Das stimmt“, lächelt er und wischt sich mit dem Ärmel über die Nase, „nett, dass du so gut auf mich achtgibst. Bis später.“