DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Aufwachen bei Ausfahrt 444

Sag mal“, sage ich zu meinem Nachbarn, „ich hab dich vorhin im Garten sitzen sehen …“

„Ja?“, sagt er abwesend.

„Da hab ich mir Sorgen um dich gemacht. Du hast so ins Leere geschaut und sahst total traurig aus …. Ist alles in Ordnung?“

Er überlegt. „Wie man’s nimmt. Ich habe was gehört. Wahrscheinlich hast du nicht gesehen, dass ich meine Ohrhörer drin hatte.“

„Ach so“, sage ich beruhigt, „du hast eine Geschichte gehört, ein Hörbuch“. Ich weiß, dass er das gerne macht.

„Nee“, sagt er, „das mache ich in letzter Zeit kaum noch. Ich hör jetzt fast immer Podcasts.“

„Was soll das denn sein?“, frage ich verständnislos. „Ich bestell mir manchmal einen Pott Kaffe. Aber was ist ein Pott Kahst?“

„Sorry“, sagt er. „Bis vor gut einem Jahr hätte ich auch nicht gewusst was das ist. Podcast das ist“, er überlegt, „so eine Art Internetradio für jedermann. Wer Lust dazu hat, setzt sich hin, erzählt etwas über ein Thema und stellt das Ganze ins Netz. Meist ist es allerdings als Gespräch angelegt, das heißt zwei oder manchmal auch mehr Leute unterhalten sich über irgendwas.“

„Und das hörst du dir an?“, ich kann es nicht glauben. „Du hast doch selber nie Lust einfach mal zu plaudern.“ Ich rede ja wirklich gerne mit ihm, ist auch immer interessant, aber wenn ich mal ein bisschen über die Nachbarn herziehen, über’s Wetter oder über Fußball reden will, dann muss ich mir jemand anderes suchen.

Er grinst. „Das stimmt. Aber da wird meist auf ziemlich hohem Niveau über interessante Sachen geplaudert – und das höre ich mir sehr gerne an.“

„Aha“, sage ich. „Aber diesmal war’s wohl nicht so interessant oder warum hast du so gequält ausgesehen?“

Prompt hat er wieder die gleiche Leichenbittermiene und wischt sich einmal schnell mit dem Handrücken über die Augen. „Nein“, sagt er seufzend, „das Problem ist, dass das mein absoluter Lieblingspodcast war und es war die allerletzte Folge. Es wird keine weiteren geben.“

„Alles hat ein Ende“, sage ich. „Ist doch normal, dass Serien irgendwann aufhören.“

Er lächelt. „Du verstehst nicht“, sagt er. „Es war keine Serie. Es war … wie soll ich dir das erklären … Stell dir vor, die Sportschau würde plötzlich verkünden, dass nächste Woche Schluss ist.“

„Nein“, sage ich erschüttert, „das können sie nicht machen“.

Er grinst. „Genau so habe ich mich gefühlt.“

„Aber du interessierst dich doch gar nicht für Sport.“

„Es ging ja auch nicht um Sport. Die Jungs haben im Wesentlichen die Fernsehnachrichten der vergangenen Woche zerlegt. Und das war immer sehr unterhaltsam, sehr informativ und vor allem sehr anregend.“

Ich verstehe kein Wort. „Du hast zwar selbst keinen Fernseher und siehst dir, wie du mir mal gesagt hast, ganz bewusst keine Nachrichten an. Hörst aber Leuten zu, die darüber reden? Das ist mir zu hoch.“

„Na ja, die Nachrichtenthemen sind ja durchaus wichtig. Und sich darüber Gedanken zu machen, was wie behandelt wird – oder eben auch nicht, das ist schon interessant. Und natürlich gab es auch viele Hintergrundinfos. Die drei die das machen, sind beeindruckend klug und sehr kompetent. Und die einzelnen Folgen waren lang, vier, fünf Stunden, in letzter Zeit meist über sechs.“

Ich schüttle verständnislos den Kopf, mir erscheinen fünfzehn Minuten Fernsehnachrichten durchaus ausreichend.

„Aber irgendwann hast du plötzlich ganz breit gegrinst“, fällt mir ein. „Gab’s da gute Nachrichten? Oder haben sie gesagt, dass sie noch eine extra Folge machen?“

Er runzelt nachdenklich die Stirn, dann lächelt er. „Ich glaube ich weiß was du meinst … aber das ist ein bisschen aufwendig zu erklären, hast du einen Moment Zeit?“

„Klar“, sage ich.

„Also pass auf: Die allermeisten Podcasts, auch diesen, kann man einfach runterladen. Du musst dich nirgendwo anmelden, nix bezahlen, du kannst es dir einfach anhören. Und du musst dafür nicht tricksen, sie sind kostenlos.“

„Schön“, sage ich, „das ist aber nett“. Denke mir aber, dass diese Leute wohl zu viel Zeit haben, wenn sie kostenlos für andere stundenlange Sendungen machen.

„Aber natürlich“, fährt er fort, „stecken in jeder Sendung viele Stunden Arbeit, alleine das Ansehen der Nachrichten und das Erstellen der Clips daraus“.

„Kann ich mir vorstellen“, sage ich.

„Also werden die Hörer eingeladen, etwas zu spenden.“

„Aha!“, trumpfe ich auf. „Es geht also doch um’s Geld.“

„Weiß ich nicht“, sagt mein Nachbar, „aber warum auch nicht? Jemand macht eine gute Arbeit, die für mich einen Wert darstellt. Dann kann ich doch auch etwas dafür latzen. Jeder muss irgendwie seine Miete bezahlen.“

„Schön und gut“, sage ich, „aber auf Spendenbasis? Wer ist denn so blöd und bezahlt für etwas, dass es umsonst gibt?“

Er lächelt nur. Und ich traue ihm zu, dass er das täte.

„Na ja“, sagt er, „hier hat das glaube ich ganz gut funktioniert. Die Jungs hatten so ein Drei-Stufen-Modell: Ab dem ersten Euro ist man Unterstützer, ab 42 Euro war man Produzent und ab einem höheren Betrag war man Präsentator. Und in jeder Folge wurden die Spender vorgelesen, die Ehrentribüne hieß das.“

„Noch höher als 42 Euro?“, frage ich ungläubig. „Wer zahlt denn einfach so 50 Euro ohne es zu müssen?“

Er lächelt wieder. Dann sagt er: „Anfangs war es so, dass Präsentator war, wer mindestens den Betrag der Folgennummer spendete.“

„Aha“, sage ich.

„Aber ab Folge 250 haben sie das geändert. Da war man mit jedem Betrag ab 250 Euro Präsentator.“

Das kann ich nicht glauben: „Es gab wirklich manchmal Leute, die so viel Geld spendeten?“

„Ja“, sagt er, „es gab fast immer mindestens einen Präsentator, manchmal auch mehrere und immer viele, die kleinere Summen schickten. Viele auch ganz regelmäßig, Monat für Monat“.

Ich schüttle den Kopf, ich fasse es nicht.

„Aber du wolltest wissen, warum ich mich vorhin so gefreut habe.“

Ich nicke.

„Weil in dieser letzten Folge sehr schön ein zentrales Dogma der Ökonomie zerlegt wurde.“

„Häh?“

„Die Ökonomie, also die Wirtschaftswissenschaft, arbeitet ja mit Modellen. Diesen Modellen liegen bestimmte Annahmen zu Grunde. Und bei denen, die uns immer predigen, dass der Markt alles regelt, wenn man den Unternehmen nur möglichst wenig reinredet, ist die wichtigste Annahme, dass der Mensch immer ökonomisch sinnvoll handelt. Dass er seine Ressourcen immer so einsetzen wird, dass sie ihm den größtmöglichen Nutzen bringen.“

„Das ist dieser Homo oeco .. oecodingens, oder?“

„Genau. Homo oeconomistuss. Oder, wie die Ökonomen sagen würden, der zeitkonsistente Erwartungsnutzenmaximierer. Es muss ja schließlich wissenschaftlich klingen.“

„Aha“, sage ich ratlos. „Lass uns doch bitte bei dem anderen Namen bleiben, ja? Du, ich fand das immer ganz vernünftig. Das heißt doch, dass man sein Geld sinnvoll ausgibt und versucht möglichst viel dafür zu bekommen, oder? Und so ist es doch auch.“

„Und deswegen steht auf deiner Terrasse ja auch ein Grill für tausend Euro, obwohl es nur drum geht, ab und zu ein Stück Fleisch kurz über glühende Kohlen zu bringen.“ Er spitzt grinsend die Lippen und nickt spöttisch.

„Nur achthundert“, sage ich, „aber das verstehst du nicht, das ist … was anderes“.

„Na wie auch immer, es ging ja um die Spenden an den Podcast.“

Ich nicke, froh, dass ich mich nicht für meinen heißgeliebten Grill rechtfertigen muss.

„Jetzt könnte man ja sagen, in all den Jahren als der Podcast lief, haben die Leute Geld gespendet um sicherzustellen, dass die Jungs weitermachen. Man sorgt dafür, dass es etwas, das einem wichtig ist, weiterhin gibt. Eine Investition in die Zukunft, eine Kosten-Nutzen-Abwägung. Jeder gibt, was er sich leisten kann und alle hoffen, dass insgesamt genug zusammenkommt.“

„Ist mir völlig fremd“, sage ich, „vor allem diese Summen – aber scheint ja so zu sein. Passt also doch in dieses Modell von dem du gesprochen hast. Obwohl …“, ich überlege, „ich würde mich, glaube ich, immer darauf verlassen, dass andere was bezahlen. Was ja noch ökonomischer wäre, bei gleichem Nutzen.“ Ein ziemlich kluger Gedanke, finde ich.

„Ja“, sagt mein Nachbar, „so sind die Menschen eben verschieden. Das ist ja auch eines der großen Probleme dieser Modellannahmen. Aber ich bin ja noch nicht fertig.“ Er zögert. „Was würdest du denn meinen?“, sagt er schließlich. „Die Jungs haben angekündigt noch vier Folgen zu machen, dann ist unwiderruflich Schluss. Also noch vier Wochen. Was passiert jetzt? Wird noch irgendjemand was spenden? Was meinst du?“

„Natürlich nicht!“, sage ich voller Überzeugung. „Hätte doch gar keinen Sinn, du kriegst ja nix mehr für dein Geld.“

„Nicht wahr?“

„Klar wie Kloßbrühe“, sage ich. „So dumm ist keiner.“

Er nickt nachdenklich. „Ich habe ja gerade die letzte Folge gehört … das Vorlesen der Spender und ihrer Grußbotschaften hat über eine Stunde gedauert“, er sieht mich an, „und es kam viel mehr Geld zusammen als jemals zuvor. Allein acht Leute haben den Betrag der Folgennummer gespendet.“

„Welche war denn das?“, frage ich.

„444“, sagt er leise.

Ich schüttle ungläubig den Kopf.

„Und allen war die Trauer anzumerken, dass es nicht weitergeht. Aber sie wollten ihre Dankbarkeit für die vergangenen Folgen zeigen. Einige schrieben, dass sie zum ersten Mal überhaupt etwas spenden, aber sie wollten unbedingt diese letzte Chance nutzen. Sie wollten sozusagen eine gefühlte Schuld ablösen. Es war großartig, ich hätte heulen können.“

„Aber stattdessen hast du dich dann doch gefreut“, sage ich.

„Ja“, sagt er, „es war irgendwie beides. Und als du mich so breit grinsen sahst, das war wahrscheinlich als mir einfiel, dass so ein Verhalten ganz schön am Sockel dieses dussligen ‚der Markt hat immer recht-Modells‘ rüttelt.“

„Ich weiß nicht“, sage ich, „manche Menschen verhalten sich eben irrational“.

„Das tun wir alle“, sagt er und schaut ganz offensichtlich zu meinem Grill hinüber. „Aber leider glauben wir, dass es nicht so ist. Und jetzt“, er steckt sich seine Stöpsel in die Ohren, „entschuldige mich bitte. Auf mich warten noch drei Stunden feinster Podcast.“