DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Enkelgarten

Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte aus unserem Dorf erzählen. Es ist ein ganz normales kleines Dorf, viele Einfamilienhäuser, nette Nachbarn, gepflegte Gärten, ruhige Straßen – ein wunderbarer Ort zum Leben.

Eines Tages stellte ich bei einem Blick über den Zaun fest, dass mein Nachbar seinen Rasen schon längere Zeit nicht mehr gemäht hat. War er krank? Hatte er sich verletzt? Nein, ich hatte ihn doch gestern noch getroffen, da war er putzmunter. Ach, da kommt er ja gerade. Ich begrüße ihn, wir plaudern ein wenig und schließlich traue ich mich, ihn auf seinen Rasen anzusprechen.

Er strahlt mich an, „Schön, dass du es bemerkt hast“ sagt er. „Ja, ich werde ihn nur noch gelegentlich mähen. Und ich habe eine Menge Wildblumensamen verteilt, bald wird es hoffentlich blühen.“

Ich bin verblüfft. Er war bisher immer sehr stolz auf seinen akkurat getrimmten Rasen gewesen, auf dem sich keinerlei Unkraut zeigen durfte. „Wie kommt’s?“ frage ich, „Dir war doch dein englischer Rasen immer so wichtig?“

„Ja“, nickt er, „ein ordentlicher Rasen, eine ordentliche Hecke, ein ordentlicher Fußweg, ordentliche Beete, alles wächst so, wie es sich gehört. So, habe ich gedacht, wäre es richtig.“ Er macht eine Pause, „aber das ist es nicht. Ist dir mal aufgefallen, dass wir immer weniger Vögel haben? Und immer weniger Insekten? Das hat einen Grund.“

Ich nicke. „Ich habe neulich im Baumarkt auch schon so ein Insektenhotel gekauft und im Winter hängen wir natürlich wieder das Futterhaus für die Vögel auf. Aber ich verstehe immer noch nicht, wieso du jetzt deinen Garten verloddern lassen willst?“

„Na ja“, sagt er rätselhaft, „alles hängt mit allem zusammen. Jedes Lebewesen muss essen und manches braucht auch eine Behausung und manchmal braucht es auch eine bestimmte Kinderstube. Vögel essen, neben Früchten und Samen, vor allem Insekten. Gibt es keine Insekten, fehlt ihnen etwas, vor allem können sie ihre Jungen nicht aufziehen. Insekten brauchen alles mögliche, meist fehlt es zunächst mal an Pollen und Nektar. Und zwar kontinuierlich, über die ganze warme Jahreszeit. Und die meisten unserer heimischen Insekten sind hochspezialisiert, fehlt ihre Futterpflanze, sind sie weg vom Fenster. Die blühenden Wildkräuter und auch die Gräser, die in einer Wiese wachsen, würden zahlreichen Insekten helfen. Aber was machen wir? Wir mähen sie ab, oft genau dann, wenn sie gerade blühen. Von einer Minute auf die andere ist alle Nahrung weg. Und so geht es weiter, der Mensch, der seinen Garten ‚pflegt‘ kämpft jede Minute gegen die Natur.“ Er schüttelt den Kopf.

„Würden wir Totholz im Garten zulassen und abgeblühte Stengel stehenlassen, bräuchten wir keine Insektenhotels kaufen. Aber die allermeisten Insekten bauen ihre Nester sowieso im Boden, auch sie finden in unseren Gärten nicht die richtigen Bedingungen. Wir ertragen es ja nicht, wenn auch nur das kleinste Stück unbearbeitet ist.“

„Die Natur ist ein Netz, jede Pflanze, jedes Tier, auch das allerkleinste, ist ein Teil davon – Schnüre und Knoten. Alles ist mit allem verbunden, alles stabilisiert sich gegenseitig. Und der Mensch, der die Natur ja nutzt wo er nur kann, der liegt in diesem Netz wie in einer Hängematte. Entfernt man nun Teile des Netzes, hält es immer noch, es hält lange. Aber irgendwann schneidet man einen Knoten zuviel weg. Und dann reißt es.“

„Ich habe mal überlegt“, sagte er, „wieso ich eigentlich dachte, dass ein Garten ordentlich und aufgeräumt sein muss. Erst dachte ich, naja, wir sind halt ordentliche Menschen und deshalb sind unsere Gärten es auch. Aber dann fielen mir meine Großeltern ein. Die waren so ordentlich, das kannst du dir nicht vorstellen, da konntest du vom Fußboden essen. Aber im Garten wucherte und blühte es, es gab keinen Rasen, sondern eine Wiese. Voller Blumen und das Gras kniehoch. Und überall hüpfte und krabbelte es, es summte und zirpte. Ich zählte locker mehr als zwanzig Vogelarten, es gab Eidechsen, Frösche und sogar Schlangen und überall lag verrottetes Holz. Also wirklich das Gegenteil von ordentlich. So einfach war es also nicht.“

„Und dann fiel mir auf, dass man im Fernsehen, in der Zeitung und vor allem in der Werbung immer nur solche Mustergärten sieht. Und ich habe gemerkt, dass ich mich irgendwie danach richtete – und natürlich“ er lachte, „nach dem, wie es die Nachbarn halten. Aber die sehen ja die gleichen Bilder. Und weißt du, was mir dann klar wurde?“ fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

„Dass man jemandem, der einen ordentlichen Garten haben will, unheimlich viel verkaufen kann! Wir verwandeln unsere Gärten in sterile Pflanzwüsten, weil die Industrie es geschafft hat, uns das als Gartenideal vorzugaukeln.“

Ich dachte darüber nach. Ja, die Gartenabteilung des Baumarkts war mit den Jahren ganz schön gewachsen, dachte ich. In letzter Zeit hatten auch viele Nachbarn ihre eigentlich noch gar nicht so alten Rasenmäher ausgemustert und sich einen Mähroboter angeschafft. Ich überlege gerade, ob ich Gießkanne und Gartenschlauch nicht durch eine elektronisch gesteuerte Bewässerung ersetzen soll. Es stimmte schon, irgendwie musste man für den Garten dauernd etwas kaufen. Und stand neben dem Regal mit den Insektenhotels nicht gleich das mit den Unkraut- und Insektenvernichtungsmitteln?

Mein Nachbar sah mich an. „Ich habe ein neues Ziel. Wenn ich hoffentlich bald mal Enkel bekomme, dann möchte ich ihnen so einen Garten bieten können, wie ich ihn bei meinem Opa hatte. Einen Garten, in dem nicht alles bekämpft wird was lebt. In dem sich so viele Tiere wie möglich wohlfühlen.“

„Und wenn mir dann einer sagt, so ein unordentlicher Garten, das wäre nichts für ihn. Dann werde ich sagen, ‚Alles eine Frage der Einstellung. Ordentlich kommt ja von Ordnung. Und mein Garten wird jetzt der Ordnung der Natur folgen. Die ist viel, viel komplexer als die des Menschen, da haben hunderte und tausende Organismen ihren Platz, nicht nur eine Handvoll. Und da wird für alle gesorgt – allerdings nicht für die Gewinne der Industrie.‘“