DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Unsichtbare Gefahren

Was du da gestern gesagt hast“, sage ich zu meinem Nachbarn, „dein Vergleich mit Viren und Lastwagen – da habe ich nochmal drüber nachgedacht. Das passt nicht.“

„So?“, sagt er. „Wieso denn nicht?“

„Na vor allem, weil man Viren nicht sehen kann. Es wird nur behauptet, dass sie da sind. Lastwagen sieht man aber. Das versteht jedes Kind, dass man da nicht davorlaufen sollte.“

„Trotzdem laufen immer wieder Kinder vor Autos“, sagt er und sieht dabei ziemlich traurig aus.

„Ist das so?“, frage ich.

Er nickt. „Ich war sogar mal dabei. Ist schon fast vierzig Jahre her …“. Er macht ein sehr wehmütiges Gesicht. „Da stand ich an einer Ampel, Hauptverkehrsstraße, auf der anderen Seite ist der Eingang zum U-Bahnhof, ne Menge Leute, viel Verkehr. Neben mir steht eine junge Frau, ihren kleinen Sohn an der Hand. Ich weiß nicht wie alt, vielleicht gerade so schulpflichtig. Mit einem Mal reißt er sich los und läuft über die Straße … mitten in den Verkehr … direkt vor ein Auto. Er fliegt bestimmt zehn, zwölf Meter durch die Luft und ist wahrscheinlich sofort tot. Das Ganze hat nur ein paar Sekunden gedauert, aber ich werde es nie vergessen.“

Ich sehe, dass ihm das Wasser in den Augen steht, er sieht mich nicht an. ‚Was soll man zu so einer furchtbaren Geschichte sagen‘, denke ich und würde gerne das Thema wechseln. „Na, dann verstehe ich jetzt auch“, sage ich schließlich, „warum du immer vom Gas gehst, wenn Kinder an der Straße stehen“. Ich fahre manchmal bei ihm mit und er treibt mich mit seinem Fahrstil in den Wahnsinn. Das mit den Kindern ist eine der Sachen, die mir aufgefallen sind.

„Ja“, sagt er, „wahrscheinlich schon. Mir ist diese Möglichkeit immer ganz präsent, dass sie vielleicht loslaufen könnten“.

„Würde mir bestimmt auch so gehen“, sage ich. „Um aber mal auf die Viren zurückzukommen … vorausgesetzt es gibt sie tatsächlich …“. Ich sehe, wie er die Stirn runzelt und sage schnell: „Schon gut. Aber ich finde, es kann mir doch keiner vorschreiben, dass ich eine Maske aufsetzen soll. Wenn ich mich nicht schützen will, ist das doch ganz allein meine Sache.“

Mein Nachbar sieht mich skeptisch an.

„Was denn?“, sage ich. „Ist doch so.“

„Ist es tatsächlich noch nicht zu dir durchgedrungen“, fragt er, „dass man mit der Maske die anderen schützt? Es geht darum, ganz kurz gesagt, dass deine Viren – falls du welche hast, bei dir bleiben.“

„Ach so?“, sage ich. Das habe ich bisher nicht so gehört.

„Ja. Es gibt natürlich auch Masken die den Träger schützen, aber die allermeisten Leute tragen Masken, die nur in eine Richtung wirken. Die also das aufhalten, was von einem selbst kommt. So wie in jedem Operationssaal. Da tragen auch alle genau solche Masken. Nicht um sich zu schützen, sondern den Patienten.“

„Na gut“, sage ich, „trotzdem kann das keiner von mir verlangen. Ich finde so eine Maske furchtbar unbequem. Außerdem habe ich kein Corona.“

„Das weißt du nicht. Ein großer Teil der Infektionen verläuft asymptomatisch.“

„Was soll das denn bedeuten?“

„Dass du zwar infiziert bist, aber keine Krankheitssymptome bekommst. Ansteckend bist du aber trotzdem. Aber mittlerweile weiß man auch, dass die Ansteckungsgefahr am höchsten ist, etwa einen Tag bevor man etwas von der Krankheit bemerkt. Deshalb gilt: Abstand halten und Maske tragen, auch wenn man sich gesund fühlt.“

„Na schön“, sage ich, „trotzdem habe ich keine Lust dazu. Keiner kann mir vorschreiben das auf mich zu nehmen, nur aus Rücksichtnahme auf andere. Auf mich nimmt auch keiner Rücksicht.“

Mein Nachbar sieht verblüfft aus. „Man könnte jetzt natürlich sagen, dass alle Menschen die du mit Maske rumlaufen siehst, das auch tun, um dich zu schützen. Aber ich staune, du meinst also, andere Menschen zu schützen ist kein Grund deine persönlichen Freiheiten einzuschränken?“

„Na klar“, sage ich.

„Hmm“, sagt er und überlegt, „da fällt mir doch ein, wie wir letzten Sommer zur Badestelle gingen. Als es so heiß war. Erinnerst du dich?“

„Sicher“, sage ich, „so oft gehen wir ja nicht zusammen baden. War das eine Hitze.“

„Da hattest du dich doch über einen Wagen aus Berlin geärgert, der so weit wie möglich in den Wald gefahren war.“

„Das weiß ich nun nicht mehr so genau“, sage ich. „Aber diese Idioten aus der Stadt sind ja immer ein Ärgernis. Alles ist knochentrocken, aber denen ist nur wichtig, ja keinen Schritt zu viel zu machen.“

„Genau. Jedenfalls kam uns dann dieses Pärchen entgegen, denen der Wagen wahrscheinlich gehörte. Und wir dachten, dass wir sie mal freundlich drauf hinweisen, dass das Auto im Wald nichts zu suchen hat, schon gar nicht bei so hoher Waldbrandgefahr.“

„Und dann“, fährt mein Nachbar fort, „hast du gesehen, dass der Typ raucht. Und da war nichts mehr mit ‚freundlich ansprechen‘. Heidewitzka, hast du den angemacht.“

„Habe ich das?“, frage ich.

Er nickt. „Aber der Typ war trotzig, meinte, ob du ihm jetzt das Rauchen verbieten willst und was dich das überhaupt angeht, schließlich sei es ja wohl sein gutes Recht zu rauchen wo er Lust hat. Daraufhin hast du was zu seiner Frau gesagt – erinnerst du dich wirklich nicht?“

Ich zucke nur mit den Schultern und schüttle den Kopf.

Mein Nachbar grinst. „Das war spektakulär, ich war sehr beeindruckt. Du fragtest sie, was für einen …“, er zögert, „… ins Hirn gefickten Zombie sie da habe, der sei ja wohl zu blöd einen Eimer Wasser umzukippen.“

„Das hab ich gesagt?“

„Hmm. Und dann hast du ihm erklärt, dass er doch wahrscheinlich gleich seine Kippe wegschmeißen wird, die dann im Unterholz landet, dort fängt es an zu schwelen und am Abend haben wir den schönsten Waldbrand. Während sie längst wieder zu Hause sind und gemütlich essen, schauen wir unseren Häusern dabei zu, wie sie in Flammen aufgehen. Alles nur, weil er zu dämlich ist zu bemerken, dass der Wald knochentrocken ist und dass man sich da nicht unbedingt eine Fluppe anstecken sollte. Zumal es zu der Zeit in Brandenburg gerade an allen Ecken gebrannt hat. Wahrscheinlich warst du deshalb auch so aufgebracht.“

Jetzt fällt es mir so langsam wieder ein. „Die Frau fand das doch ganz lustig, oder? Sie hat ihrem Typen dann die Zigarette abgenommen, ganz vorsichtig ausgemacht und eingesteckt.“

„So war’s“, bestätige ich.

„Und warum erzählst du mir das jetzt?“, frage ich.

Mein Nachbar schaut mich an. „Na, weil es da gewisse Parallelen gibt. In einer Situation, die grundsätzliche Gefahren birgt, ist es gut, wenn alle aufpassen und sich der Einzelne gegebenenfalls auch mal einschränkt. Die Alternative wäre, dass der Typ sagt: ‚Mir doch egal ob’s hier brennt‘ und weiterraucht. Ich fände das nicht viel anders als jemanden, der sagt: ‚Mir egal, ob ich euch anstecke, ich trage keine Maske‘. Ich fände es gut, wenn die Einen ihre Viren bei sich behalten und die Anderen ihr Feuer.“

Ich überlege. ‚Da ist was dran‘, denke ich. Und sage: „Aber nur, wenn es wirklich ein neues Virus gibt … und daran habe ich eben so meine Zweifel.“

Er verdreht die Augen und sagt: „Das ist wirklich interessant, aber erklärst du mir das bitte morgen? Ich hatte eigentlich gar keine Zeit.“ Und schon ist er wieder weg.