DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Ballwechsel

Ich sitze mit meinem Nachbarn im Garten, mein Telefon klingelt. Ich hole es heraus, kann aber nicht erkennen wer anruft, es ist kein Bild dabei. Also halte ich es ihm hin und frage: „Wer ist das?“.

„Deine Mutter“, sagt er.

„Rufe ich später zurück“, sage ich und wische sie weg. „Das kotzt mich ganz schön an“, sage ich.

„Ruft sie dich denn so oft an?“, fragt er.

„Was?“, frage ich verwirrt, dann verstehe ich: „Nein, das meine ich doch nicht“ und schüttle unwirsch den Kopf. „Ich meine das mit den Augen. Dass ich mittlerweile für alles und jedes ’ne Brille brauche.“

„Das kommt vom Tischtennis“, sagt mein Nachbar und nickt wissend.

„Ähh, wie bitte?“, sage ich und frage mich, wer da jetzt was gerade falsch verstanden hat.

„Ja“, sagt er bestimmt und nickt weiter. „Tischtennis spielen ist total schlecht für die Augen. Und du spielst doch schon jahrelang, oder?“

„Jahrzehnte“, sage ich unwillkürlich, nur um sofort anzufügen: „Was erzählst du denn da für einen Quatsch? Wieso soll Tischtennis denn schlecht für die Augen sein?“

„Wenn man nur so ein bisschen spielt, so freizeitmäßig, dann ist es nicht gefährlich. Aber je mehr man spielt und je besser, desto mehr geht es auf die Augen. Das Problem sind die schnellen Bälle. Und dass sie in so kurzen Abständen hin und her gehen. So was gibt es in der Natur nicht, da sind unsere Augen nicht für gemacht. Und das verschleißt mit der Zeit einfach den Sehnerv“, sagt er achselzuckend.

„Das ist doch totaler Schwachsinn“, sage ich. „Da hätte ich doch wohl schon mal von gehört.“

„Das ist so!“, beharrt er. „Da gibt’s jede Menge Untersuchungen.“ Dann überlegt er: „In deiner Tischtennistruppe haben doch mittlerweile alle ’ne Brille, oder?“

Ich nicke. „Aber das liegt daran, dass wir alle nicht mehr die Jüngsten sind. So ab vierzig, fünfzig geht das halt los.“

„Ja“, nickt er, „es kann losgehen – muss aber nicht. Aber bei euch tragen alle Brille. Nee, nee, das muss andere Gründe haben.“

„Wir sind doch nur zehn Hanseln“, sage ich. „Da kannst du doch jetzt keine allgemeine Regel draus ableiten.“

„Wenn’s so is, isses so“, sagt er nur.

Ich kann es immer noch nicht glauben, von meinem Nachbarn so was zu hören. Er ist doch sonst immer so vernünftig. Wie kommt er denn auf so eine Geschichte?

„Wie kommst du überhaupt da drauf?“, frage ich ihn. „Hast du das irgendwo gelesen?“

„Klar“, nickt er, „im Internet. „Bin ich jetzt schon häufiger drüber gestolpert. Es gibt da ganz neue Untersuchungen.“ Er macht eine Pause und fügt dann noch an: „Von schwedischen Wissenschaftlern.“

„Das ist Quatsch“, sage ich bestimmt. „Glaub es mir!“

„Wieso sollte ich dir denn da glauben?“, fragt er. „Ich habe ganz ausführliche Texte darüber gelesen. Mit Diagrammen, Tabellen und allem Zipp und Zapp. Auch jede Menge Berichte von Betroffenen. Kann ich dir zeigen.“

Ich schüttle nur den Kopf. „Kannst du mir zeigen, es bleibt aber trotzdem Unsinn. Und wenn da irgendein medizinisches Geschwafel steht, kann ich da sowieso nichts mit anfangen.“

„Es gab auch Therapien“, sagt er.

„Was denn für Therapien?“, frage ich und bin nun doch etwas interessiert.

Er überlegt. „Warte mal … Ah ja, da wurden Bälle, farbige Bälle … es mussten ganz bestimmte Farben sein … immer vor den Patienten hin und her bewegt. Zuerst schnell, aber dann immer langsamer. Und die Farben mussten in einer bestimmten Reihenfolge kommen. Den Leuten ging es danach viel besser.“

Er sieht mich an. „Das beweist doch ziemlich klar den Zusammenhang, oder?“

Ich schaue ihn skeptisch an. „Ich weiß nicht, ob das irgendwas beweist. Hört sich für mich nach totalem Humbug an. Ich bin wirklich sicher, dass du da auf irgendeinen Unsinn hereingefallen bist.“

„Entschuldige mal bitte“, sagt er. „Willst du sagen, dass ich blöd bin? Das waren ganz seriöse Texte. Und wieso sollte sich denn jemand so etwas ausdenken?“

„Was weiß ich“, sage ich. „Aber es herrscht ja kein Mangel an Idioten, Wichtigtuern und Unruhestiftern. Sagst du doch selbst immer.“

„Na komm“, sagt er, plötzlich in einem ganz freundlich-mitfühlenden Ton. „Ich verstehe ja, dass du das nicht wahrhaben willst. Ist ja auch bitter, seine Augen an sein Hobby zu verlieren. Hättest du das vorher gewusst, ….“

„Jetzt hör aber auf!“, fahre ich ihn an, kriege mich aber gleich wieder ein. Hat ja keinen Sinn.

„Schau mal“, sage ich. „Ich spiele seit fast fünfzig Jahren Tischtennis. Wir waren mit dem Verein schon in der ganzen Welt.“ Ich spiele in einer Betriebssportgruppe und da es ein internationaler Konzern ist, gibt es oft Gelegenheiten im Ausland zu spielen. „Wir waren sogar in China“, fahre ich fort, „da spielt wahrscheinlich eine Milliarde Menschen Tischtennis – aber ich habe noch nie“, ich wiederhole es noch mal, „noch nie davon gehört, dass es schlecht für die Augen ist.“

„Du spielst doch nur“, sagt er schlicht, „du hast doch da gar keinen Überblick“.

„Bitte?“, frage ich gedehnt. „Tischtennis ist wahrscheinlich das, womit ich am meisten in meinem Leben beschäftigt habe, ich war auf X Lehrgängen, bin seit vielen Jahren Trainer, ich lese sogar regelmäßig das Tischtennisjournal. Ich würde sagen: Ein bisschen was verstehe ich schon davon.“

Er wiegt den Kopf … „Kann schon sein. Aber wahrscheinlich wird es ziemlich unter den Teppich gekehrt.“ Er nickt leicht vor sich hin. „Wäre schließlich nicht gut für’s Geschäft mit der Ausrüstung … und die Augenärzte wollen ja auch nicht ihre Kundschaft verlieren.“

„Was denn für ’ne Ausrüstung?“, frage ich verständnislos. „Das ist ja das schöne am Tischtennis: Man braucht nur einen winzigen, schlichten Schläger und einen Ball. Minimalistischer geht es doch kaum.“

„Du hast doch verschiedene Schläger“, wendet er ein.

„Schon“, gebe ich zu.

„Und kaufst auch ständig neue Bälle.“

„Natürlich“, sage ich, „die halten nicht lange. Aber sie sind jetzt auch nicht besonders teuer.“

„Die Masse macht’s“, sagt mein Nachbar. „Und natürlich die Platten. Und die Netze. Und spezielle Schuhe. Und und und …“. Er sieht mich herausfordernd an.

Ich schaue verständnislos zurück. Mir fällt nichts mehr zu diesem Unsinn ein.

„Du glaubst also“, fasse ich das Gesagte schließlich zusammen, „da zieht eine skrupellose Mafia von Tischtennisausstattern und Augenärzten die Fäden und verschweigt, um ihr Geschäft nicht zu gefährden, den Spielern weltweit die Gefahr eines schweren Augenleidens?“

„Kann doch sein“, sagt er trotzig.

„Nein“, sage ich hilflos, „das kann nicht sein“.

„Dann beweis mir doch das Gegenteil“, sagt er, „wenn du so überzeugt bist, dass du recht hast“.

„Wie soll ich das denn bitte machen?“, frage ich. „Da denkt sich irgendwer irgendeinen Unsinn aus und stellt irgendeine Behauptung in den Raum. Natürlich werde ich überhaupt nichts finden was das widerlegt. Weil es das Problem ja gar nicht gibt. Also beschäftigt sich natürlich auch niemand mit der Frage. Ist doch klar.“

„Na ich weiß ja nicht“, sagt er. „Mir scheint das Hand und Fuß zu haben. Du spielst lange Tischtennis und hast jetzt schlechte Augen, deine Mitspieler genauso …“. Er lässt den Satz in der Luft hängen.

„Aber die meisten Leute in unserem Alter brauchen eine Brille“, sage ich verzweifelt.

„Es gibt wahrscheinlich verschiedenste Gründe, warum die Augen schlechter werden“, sagt er, „das ist kein Argument“.

Er gibt sich einen Ruck und steht plötzlich auf: „Aber lass uns jetzt Schluss machen damit. Ich will dir deinen Sport schließlich nicht madig machen.“ Er überlegt kurz und fügt hinzu: „Mir wäre nur wichtig, dass dir bewusst wird, dass das alles nicht so harmlos ist wie du denkst“ und geht davon.

Ich schaue ihm noch völlig verdattert nach, als er sich umdreht und wieder zurückkommt. „Sag mal“, fängt er an, „kommen deine Sportkollegen eigentlich noch mal zum Grillen dieses Jahr?“.

„Ja“, antworte ich, „nächstes Wochenende. Warum?“.

„Na, ich werd dann mal rüber kommen um ihnen das zu erzählen. Du wirst’s ja wahrscheinlich nicht machen.“

„Worauf du einen lassen kannst“, sage ich.

„Eben“, sagt mein Nachbar. „Und weil ich es mir nie verzeihen würde, sie nicht gewarnt zu haben, komme ich dann mal und erzähle es ihnen. Vielleicht ist es für sie ja noch nicht zu spät“, sagt er sinnierend.

„Den Teufel wirst du tun“, fahre ich ihn an. „Du wirst damit nur Unruhe stiften und ihnen völlig nutzlose Sorgen machen. Kommt überhaupt nicht in Frage!“. Ich kenne schließlich meine Leute, da sind ein paar dabei, denen man wirklich alles erzählen kann. Wir haben uns oft genug einen Spaß mit ihnen gemacht.

„Ach so“, sagt er eingeschnappt, „du entscheidest jetzt also was wahr und was falsch ist, so so. Und mir willst du den Mund verbieten … na, das wollen wir doch mal sehen.“

Er wendet sich ab und geht hocherhobenen Hauptes in seinen Garten und, ich bin nicht sicher, aber mir scheint, dass ein leichtes Lächeln um seine Lippen spielt.