DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Visionen - Umfragesaga 2

Durchs Fenster sehe ich meinen Nachbarn im Garten, greife meine Zettel und eile zu ihm.

„Hallo“, grüßt er mich freundlich, „wie geht’s?“

„Geht so“, grummel ich und wedele mit meinen Zetteln. „Seit einer Stunde brüte ich über deiner verdammten Umfrage. Gerade habe ich sie zum dritten Mal ausgedruckt. Je mehr ich drüber nachdenke, desto komplizierter wird es.“

„Ach so?“, er schaut mich neugierig an.

„Ja! Zuerst habe ich einfach irgendwas angehakt und war zackbumm fertig. Dann dachte ich: ‚Na ja, eine Vision ist das nicht gerade‘, hab nochmal von vorn angefangen und dann nochmal. Ich komme da einfach nicht weiter. Nimm zum Beispiel die Frage, ob ich mehr Gewerbe will. Klar, ich hätte gerne wieder einen Bäcker im Ort, gerne auch mit einem Café, aber ganz sicher keine … Disco.“

Er nickt grinsend.

„Aber wie bringe ich das da unter? Oder der Tourismus. Ist meine Vision, dass hier künftig Scharen von Touristen durch den Ort strömen? Sicher nicht. Aber wenn wir andererseits einen Bäcker hätten, der so großartig ist, dass die Leute von weit her kommen, dann würde mir das natürlich gefallen.“ In Gedanken lecke ich mir schon die Lippen. „Und so ist es mit allem. Hätte ich bloß nicht damit angefangen“, sage ich.

Mein Nachbar schüttelt missbilligend den Kopf. „Jetzt sei mal nicht so selbstmitleidig.“ Aber dann sieht er mich doch beinahe mitfühlend an: „Ist gar nicht so einfach mit der Zukunftsplanung, was?“

„Hätte ich nicht gedacht“, gebe ich zu.

„Aber das Gute ist“, sagt er, „du brauchst ja auch nicht planen, sondern kannst dir einfach ausdenken, was du am besten fändest. Deine Vision eben. Die verschiedenen Idealvorstellungen dann in eine Form zu bringen, mit der alle leben können und die auch funktioniert, das ist ja dann Sache der Politik.“

„Okay“, sage ich, „dann erzähl mir doch mal, wie deine Vision für unser Örtchen aussieht. Vielleicht krieg ich’s dann besser hin.“

„Hmm“, sagt er zustimmend, „das mache ich. Lass mich nur einen Augenblick nachdenken, ich hab das bisher nämlich auch noch vor mir her geschoben.“ Er überlegt einen Moment.

„Pass auf“, sagt er schließlich, „ich erzähl dir mal, wie ich mir vorstelle dass es ist, wenn ich an einem ganz normalen Tag durchs Dorf gehe“.

Ich nicke.

„Also zuerst mal treffe ich viel mehr Leute als jetzt, weil mehr zu Fuß gehen oder mit dem Rad fahren oder irgendwas im Garten machen. Und ich kenne auch viel mehr, weil ich sie schon bei den verschiedensten Gelegenheiten getroffen habe und wir auch immer mal wieder was gemeinsam machen.“

„Ja“, sage ich, „das wäre gut. Jetzt sieht man die meisten nur an sich vorbei fahren und erkennen tue ich sie vor allem an ihren Autos“. Ich überlege, wie sonderbar das eigentlich ist … und frage dann: „Aber was willst du denn mit ihnen machen? Bei der jährlichen Wanderung warst du doch glaube ich erst einmal dabei?“

Er überlegt. „Na zum Beispiel wünsche ich mir für die Gemeinde ein Reparatur-Café, wo man mit seinen kaputten Geräten hingehen kann. Und ich stelle mir gerne vor, dass wir gemeinschaftlich eine kleine Gaststätte betreiben, die regelmäßig geöffnet ist, wo die verschiedensten Leute immer mal ein paar Stunden arbeiten und wo ganz unterschiedliche Sachen stattfinden. Ich könnte mir da zum Beispiel Lese- oder Diskussionsabende vorstellen oder so kleine Musikveranstaltungen.“

Ich verdrehe nur die Augen. „Mit ‚arbeiten‘ meinst du wahrscheinlich ‚ohne Bezahlung‘, oder?“, frage ich.

„Klar“, sagt er nur. „Außerdem wünsche ich mir, dass sich alle für den öffentlichen Raum ein bisschen mitverantwortlich fühlen, da würde man dann auch allerhand gemeinsam machen.“

„So wie die die Müllsammelaktion im Frühjahr?“, frage ich.

Er nickt. „Müll sammeln ist das Eine“, sagt er, „aber auch pflegen und umgestalten. Zum Beispiel die Straßenbäume gießen, wenn es wieder mal so heiß ist. Und der öffentliche Raum ist momentan ja dahingehend optimiert, dass er möglichst pflegeleicht ist. Ich wünsche mir zum Beispiel viel mehr blühende Rabatten, mit für unsere Gegend typischen Pflanzen.“

„In unserer Sandbüchse wächst doch nix“, sage ich. „Was soll denn dafür typisch sein? Außer den Kiefern vielleicht.“

„Du meinst also, dass hier Wüste wäre, wenn wir nicht tonnenweise Kompost herkarren würden?“

Ich zucke die Achseln.

„Im Gegenteil“, sagt er. „Tatsächlich sind Standorte mit nährstoffarmen Böden sogar besonders wertvoll.“

„Ach so?“, sage ich.

„Ja, denn das ist natürlich das schwierigere Gelände. Es gibt viele Pflanzen die darauf spezialisiert sind, mit diesen wenigen Nährstoffen und wenig Wasser auszukommen. Aber wenn man zu viel Wasser und Nährstoffe drauf gibt, dann werden sie von anderen verdrängt, die mit den mageren Böden nie zurecht kämen.“

„Das leuchtet mir ein“, sage ich. „Aber vermutlich ist das ziemlich unscheinbares, dürres Zeug, oder?“

„Überhaupt nicht“, sagt er und ist plötzlich ganz überschwänglich. „Die sind wunderschön und auch groß. Und vor allem mal etwas anderes. Ich kann dir nachher ein Buch zeigen wenn du magst.“

„Na lass mal“, sage ich. „Ich glaub’s dir auch so.“

Er sieht ein bisschen enttäuscht aus, fängt sich aber gleich wieder. „Und wenn man erstmal wieder mehr heimische Pflanzen hat“, sagt er, „dann kommen auch die heimischen Insekten wieder. Die sind nämlich darauf spezialisiert. Und sind die Insekten da, kommen auch die heimischen Vogelarten wieder.“ Er strahlt mich an. „Das ist nämlich ein ganz wichtiger Teil meiner Vision: Dass die Natur wieder mehr in Ordnung kommt.“

„Hab ich mir schon irgendwie gedacht“, sage ich.

„Weiß ich“, grinst er. „Natürlich muss sich dafür in erster Linie die Landwirtschaft ändern – aber der öffentliche Raum, Gärten und vor allem ungenutzte Flächen sind auch jetzt schon wichtig für die Vielfalt. Für viele Arten sind das richtige Überlebensinseln. Das muss man ausbauen.“ Er nickt nachdrücklich.

„Kommen wir mal zu deiner Vision zurück“, sage ich, „bisher ist da für mich noch nicht besonders viel rausgesprungen. Du triffst also mehr Leute und du kennst sie auch besser, von irgendwelchen Aktivitäten. Außerdem wächst hier mehr Zeug. Was noch?“

„Na, ich komme auch deswegen eher ins Gespräch, weil mehr Leute mit dem Rad fahren. In meiner Vision haben wir nämlich überall gute Radwege. Und Abstellboxen an den Bahnhöfen, damit man da auch sein teures E-Bike unbesorgt stehen lassen kann. Und natürlich fahren Busse und Bahnen viel häufiger. Es muss also nicht mehr jeder in seiner Blechkiste rumhetzen.“

„Hetzen?“, sage ich mit hochgezogenen Brauen. „Darf ich dich dran erinnern, dass wir hier Tempo 30 haben?“

„Hält sich nur keiner dran.“

„Manche schon“, sage ich.

„In meiner Vision sind alle Straßen so, dass man dort gar nicht schnell fahren kann. Mit der Geschwindigkeit verschwinden nämlich Lärm, Staub und Hektik. Das wäre in jeder Hinsicht gut.“

„Mit dem Staub gebe ich dir recht“, sage ich. Jeder der auch nur ein bisschen zu schnell über unsere ungepflasterten Straßen fährt, produziert riesige Staubwolken. „Aber meine Lösung dafür wäre ja, die Straßen endlich mal zu asphaltieren.“

„Nein“, sagt er bestimmt, „auf keinen Fall! Wir brauchen ganz sicher nicht noch mehr versiegelte Flächen, die kein Wasser aufnehmen können. Im Gegenteil. Aber Straßenbau ist auch immens teuer, mit dem Geld kann man wirklich sinnvolleres tun“, sagt er.

„Na ja“, sage ich, „ich hätte aber halt gerne vernünftige Straßen. Nach den letzten Regenfällen haben wir schon wieder überall Ausspülungen.“

„Ja“, gibt er zu, „der Zustand ist verbesserungsfähig. Aber wie gesagt, ich bin sicher, dass eine wirklich durchgesetzte Temporeduzierung nicht nur unsere Nerven schont, sondern auch die Straßen. Ich fände 20 km/h im Ort völlig ausreichend.“

Ich stöhne, weil ich mich schon im Kriechgang nach Hause fahren sehe. Andererseits, im Ort habe ich ja maximal zwei Kilometer zu fahren, wenn überhaupt. Da macht das also kaum etwas aus. Und wenn wir dafür weniger Lärm und Staub hätten …

„Könnte man ja mal versuchen“, sage ich widerstrebend. „Und, hast du noch mehr von der Art?“

„Die Frage nach der Kinder- und Familienfreundlichkeit beschäftigt mich noch“, sagt er nachdenklich.

„Aber das betrifft uns doch gar nicht mehr“, sage ich.

„Ist richtig“, sagt er, „hab ich auch erst gedacht. Aber durch Corona kamen doch plötzlich die ganzen Familien aus der Stadt her und wohnten in ihren Wochenendhäusern. Zum Teil hatten sie auch noch Freunde mitgebracht.“

„Stimmt“, sage ich. „War ganz schön was los.“

„Und das war doch total nett“, sagt mein Nachbar. „Plötzlich standen dauernd Kinder am Zaun.“

„Wahrscheinlich wegen deiner Hunde.“

„Klar. Aber wenn sie mit streicheln fertig waren, haben sie auch mit mir geredet. Hat mir unheimlichen Spaß gemacht.“

„Und was heißt das nun?“, frage ich.

„Das ein Ort ohne Kinder viel langweiliger ist, als einer mit. Deshalb bin ich grundsätzlich dafür, den Ort für junge Familien interessant zu machen. Allerdings habe ich keine Ahnung wie“, sagt er ratlos und hebt bedauernd die Hände.

„Sag ich ja, dass das alles total schwierig ist“, sage ich. „Es kommt sowieso nicht so, wie man will. Wie siehst du das denn eigentlich mit den Touristen?“

„Da geht’s mir wie dir“, sagt mein Nachbar. „Warum sollte ich wollen, dass lauter Leute herkommen? Im Zweifelsfall machen die nur Lärm und verteilen Müll in der Gegend. Verdienen will ich an ihnen auch nichts.“

Ich nicke.

„Andererseits“, wiegt er langsam seinen Kopf von links nach rechts, „ist es auch nicht gut, sich einzuigeln. Man kann immer dazulernen und neue Ideen bekommen und dazu ist es gut, andere Menschen kennenzulernen. Für mich kommt es sehr darauf an, wer da kommt.“

„Das kann man sich aber natürlich nicht aussuchen“, sage ich. „Wenn man erstmal die Werbetrommel rührt, kommt wer Lust hat.“

„Hängt davon ab. Eröffnen wir auf dem See eine Wasserskistrecke, kommen Wasserskifans und wir haben den ganzen Tag Motorengedröhn. Bauen wir einen Tontaubenschießstand, kommen Leute die gerne schießen und wir haben rund um die Uhr Geballer.“

Mich schaudert.

„Aber denk zum Beispiel mal an den Tag des offenen Ateliers“, sagt er. „Du gehst da ja nie hin, aber kriegst du davon irgendwas mit?“

Ich überlege. „Kaum“, sage ich. „Es laufen ein paar mehr Leute rum, die einem über den Zaun lugen, ob hier irgendwo Kunst steht. Das ist alles.“

Er nickt. „Kunstfreunde wären also okay. Aber so viele Künstler haben wir dann ja doch nicht. Ganz allgemein gesagt wäre ich für Touristen, die hier nichts tun, sondern sich etwas ansehen wollen.“

„Was gibt’s bei uns denn schon groß zu sehen?“, frage ich verständnislos.

„Das überlegen wir doch gerade, was man da vielleicht machen könnte“, sagt er geduldig. „Ich kenne zum Beispiel eine dänische Insel, die ist in wenigen Jahren komplett energieautark geworden. Da pilgern Leute aus aller Welt hin, um sich das anzusehen. Das fände ich super. Oder es gibt Gegenden, da fahren die Leute hin, weil es nachts noch richtig dunkel wird und man einen großartigen Sternenhimmel hat. Dafür braucht man nur das Licht ausmachen. Fände ich auch gut. Manche Orte untersagen an Sylvester jegliches Feuerwerk, da musst du jahrelang vorher reservieren um ein Zimmer zu kriegen.“

„Ich seh‘ schon“, sage ich, „du setzt nicht unbedingt auf den typischen Ballermann-Touristen“.

„Aber nein“, sagt er grinsend. „Leuten zu versprechen, hier mal richtig die Sau rauslassen zu können ist doch ein großartiger Plan“. Er schüttelt sich. „Aber mal im Ernst, ich würde mich wirklich über jeden freuen der sich anschauen will, wie wir es geschafft haben unsere Gemeinde zukunftsfähig und lebensfreundlich zu gestalten.“

„Zukunftsfähig?“, rätsele ich. „Ich denke wir reden hier über die zukünftige Gestaltung?“

„Na ja“, sagt er nachdenklich, „die Welt geht den Bach runter. Der Klimawandel kommt, das Artensterben ist schon da, die Arbeitswelt wird sich dramatisch ändern. Wenn wir für die Zukunft planen, könnte das ruhig über Kinderspielplätze und Hinweisschilder für Touristen hinausgehen.“

„Und das heißt …?“, frage ich gottergeben.

„Man sagt ja immer, wenn sich etwas ändern soll, muss jeder Einzelne bei sich anfangen. Das stimmt zwar nur begrenzt, aber ein wenig eben doch und das kann man genauso auf die Politik münzen: Gemeinden sind die kleinste kommunale Einheit. Politisch besteht Deutschland aus Gemeinden. Ändern sich die Gemeinden, ändert sich das Land. Und es gibt einige Dinge, die sich ganz dringend ändern müssen: Wir müssen unbedingt auf regenerative Energien umstellen. Wir müssen überhaupt viel weniger Energie verbrauchen, zum Beispiel in dem wir weniger Wege mit dem Auto zurücklegen. Dafür muss unser näheres Umfeld so gestaltet sein, dass wir nicht so viel fahren müssen. Wir brauchen also eine gute regionale Versorgung und einen guten ÖPNV. Es wird immer heißer, es wird immer trockener. Und wir leben hier mitten im Wald. Wir hätten schon längst mit dem Waldumbau anfangen müssen. Du machst dir doch genauso viel Sorgen wegen Waldbränden wie ich.“

Ich nicke.

„Und wir müssen die Biodiversität fördern. Wir brauchen ökologischen Landbau. Ich überlege schon immer, ob ich nicht versuchen soll Leute für eine kleine regionale Landwirtschaft zu finden. Nicht um was zu verkaufen, sondern für den eigenen Bedarf.“

Ich schüttle den Kopf, ‚jetzt dreht er durch‘, denke ich.

Aber mein Nachbar fährt unbeirrt fort: „Ich möchte eine regionale, genossenschaftliche Stromerzeugung, die den Bürgern gehört. Wir haben hier keine Industrie, was wir brauchen, können wir problemlos selbst erzeugen.“

„Du drehst da aber ein ganz schön großes Rad“, unterbreche ich ihn kopfschüttelnd, „für so einen kleinen Fragebogen. Das kriegst du da unmöglich alles drauf.“

„Deshalb erzähl ich’s ja dir“, sagt er grinsend. „Damit du auch ein bisschen was davon schreibst.“

Ich ziehe nur meine Augenbrauen hoch.

„Nee, du hast natürlich recht“, sagt er, „das sprengt den Rahmen. Andererseits erreicht man keine Ziele, die man nicht hat. Dann ist man nur Treibgut.“

„Treibgut?“, frage ich verständnislos.

„Ja. Wenn wir nicht überlegen wo wir hinwollen und wenn wir dann nichts dafür tun, dass wir da auch hinkommen, dann haben wir auf den Verlauf unseres Weges keinen Einfluss. Wir sind Treibgut.“

„Aber ich will doch eigentlich nirgendwo hin“, sage ich. „Es gefällt mir ganz gut wie es ist und ich bin froh, wenn man mich mit allem in Ruhe lässt.“

„Ach so“, nickt mein Nachbar, „wenn du nirgendwo hin willst, dann bist du natürlich kein Treibgut“.

„Nicht wahr“, nicke ich erfreut.

„Nein“, sagt er. „Aber dafür gibt es auch einen Begriff … ich komm nur grad nicht drauf.“

„Lebenskünstler?“, frage ich.

Er schaut mich freundlich lächelnd an. „Nein, ich meine diesen Vogel, der bei einer Bedrohung immer seinen Kopf in den Sand steckt.“