Wieder nach Prag
Sommer 1944
Ich blieb dann noch einige Zeit in Weimar, denn meine Fahrt nach Kiritein würde erst im Juli gehen. Eines Tages fuhr ich also von Weimar nach Berlin, um von dort den Zug nach Prag nehmen zu können. Ich kam am Abend in Berlin an, mein Vater erwartete mich am Bahnhof und dann geschah etwas Sonderbares. Nach dem wir das Gepäck versorgt hatten, fuhr er mit mir in die Oper. Ich war todmüde und wollte eigentlich nur schlafen, musste mir aber nun Tristan und Isolde ansehen - wovon ich kaum etwas verstand.
Mit der Schule und auch mit meinem Vater war ich vorher schon gelegentlich in Opern oder Operetten. Mich interessierte diese Musik nicht so besonders, aber wir gingen immer mal wieder mit mehreren Schulklassen in die Staatsoper oder den Admiralspalast. Dabei war das im Unterricht gar kein Thema. Es ging das Gerücht, das wir vor allem die Sitzreihen füllen sollten. Ich weiß es nicht. Jetzt musste ich jedenfalls erstmal diese Wagner-Oper durchstehen. Am nächsten, vielleicht auch am übernächsten Tag, das weiß ich nicht mehr so genau, ging dann mein Zug nach Prag.
Der Abschied am Bahnhof in Berlin war sehr traurig. Auf den Fahrten durch die Stadt hatte ich gesehen, welche Zerstörungen die Bombardierungen schon angerichtet hatten. Ich war durch völlig zerstörte Straßenzüge gefahren. Dort hatten überall Menschen gewohnt. Es hätte genauso gut auch unsere Straße treffen können. Es war doch letztlich reiner Zufall wo die Bomben einschlugen. Und nun fuhr ich wieder weg, aber meine Eltern und Eva, meine kleine Schwester, sie blieben hier. Und ich hatte gehört, dass vom Osten her russische Truppen auf Berlin vorrückten. Aber ich fuhr doch nach Osten? Solche Gedanke gehen einem dann durch den Kopf. Du kannst dir vorstellen, dass das kein fröhlicher Abschied war.
Aber ich hatte, wahrscheinlich zum Glück, kaum Zeit düsteren Gedanken nachzuhängen und mir Sorgen zu machen. Ich trug nämlich Verantwortung. Mir waren drei junge Mädchen anvertraut, die in die erste Klasse meines Lyzeums aufgenommen worden waren. Zehn Jahre waren sie alt und noch nie von zu Hause fort. Ich war dafür zuständig, sie heil und gesund nach Kiritein zu bringen. Und damit hatte ich alle Hände voll zu tun.
Denn es war genau wie auf der Reise nach Luhatschowitz: Wir hatten viel mehr Gepäck, als wir tragen konnten, da wir ja auch wieder Winterkleidung, Schulbücher und ein dickes Federbett mit hatten. Die Ansage war, dass wir mit einer langen, vielleicht sogar mehrjährigen Abwesenheit rechnen sollten. In Luhatschowitz war ich anderthalb Jahre gewesen. Meine Kameradinnen waren mittlerweile seit zwei Jahren da.
Das Verstauen des Gepäcks nahm so viel Zeit in Anspruch, dass für lange Abschiedsszenen gar keine Zeit blieb. Mit einem Mal waren wir unterwegs. Und anders als auf meiner ersten Reise, war ich diesmal ganz auf mich allein gestellt. Denn der Zug war zwar gerammelt voll, aber diesmal fuhr ich nicht zusammen mit Mitschülerinnen und uns begleiteten auch keine Lehrer. Unsere Gruppe bestand nur aus drei Zehnjährigen, und mir, vierzehn Jahre alt. Merkwürdigerweise schienen sie mir irgendwie zu vertrauen, dabei war ich ja kaum älter als sie. Sie sahen mich ungefähr so an, wie wir wohl Moritz angesehen hatten. Aber es würde schon alles gutgehen. Unsere erste Station war Prag und dorthin fuhr der Zug durch, wir würden nicht umsteigen müssen.
Nur, dass wir dann doch umsteigen mussten. Am Stadtrand von Dresden hielt der Zug an einem Vorortbahnhof. Alle mussten aussteigen und sollten auf einen anderen Zug warten, der auf einem anderen Gleis kommen würde. Es stellte sich heraus, dass der Bahnhof bombardiert worden war und viele Gleise deshalb zerstört waren. Nun standen wir vor dem Problem, unser ganzes Gepäck aus dem Zug heraus und auf den richtigen Bahnsteig zu bekommen. Dabei zeigte sich, dass die Mädchen ihre Koffer nicht selbst tragen konnten. Aber das war nur eines der Probleme. Um überhaupt aus dem Zug zu kommen, mussten wir durch mehrere Waggons nach vorn laufen, weil der Zug viel länger als der Bahnsteig war. Sicher aussteigen konnte man nur aus den vorderen Waggons. Allerdings war der Zug ziemlich voll, vor allem mit Soldaten. Es war also ziemlich mühsam. Ich beschloss, dass zunächst mal die Mädchen raus mussten und dann das Gepäck.
Und so machten wir es dann auch. Ich platzierte sie an einem festen Standort auf dem Bahnsteig und schärfte ihnen ein, dort auf jeden Fall zu bleiben. Dann holte ich Stück für Stück das Gepäck aus dem Zug: die großen, unhandlichen Koffer und die dicken Bettsäcke. Und für jedes Stück durch den halben Zug und wieder zurück. Zum Glück leerte er sich nach und nach. Aber ich war ständig in Sorge, dass er plötzlich abfahren könnte und ich dann nicht mehr hinaus käme. Zwischendurch versetzte uns auch noch ein Fliegeralarm in Angst und Schrecken. Aber diesmal fielen keine Bomben und letztlich ging alles gut. Irgendwann legte ich das letzte Gepäckstück auf unseren riesigen Haufen - und wahrscheinlich ließ ich mich sofort danach auf einen der Bettsäcke fallen. Aber lange ausruhen ging nicht, wir durften unseren Zug nicht verpassen.
Dafür mussten wir zunächst mal das richtige Gleis finden und dann das Gepäck dorthin bringen. Nur hatte es vor wenigen Stunden einen Bombenangriff gegeben und überall lagen Trümmer. Und wir waren ja nicht die einzigen, Massen von Menschen hasteten hin und her. Ich habe mir dann einen Koffer genommen und eines der Mädchen und habe den Weg zu dem neuen Bahnsteig gesucht. Die andern beiden mussten derweil auf das Gepäck aufpassen. Auf dem anderen Bahnsteig angekommen, habe ich dann wieder einen markanten Platz als Standort gesucht und das Mädchen mit dem Koffer dort abgestellt. Dann ging es zurück, den nächsten Koffer holen. So lange, bis unser ganzes Gepäck auf dem neuen Bahnsteig war. Eine Knochenarbeit. Ab und zu half mir auch mal ein Soldat, wenn er eine Hand frei hatte. Aber die Soldaten hatten ja selbst an ihrem eigenen Gepäck schwer zu tragen.
Aber schließlich war es geschafft und irgendwann später kam dann auch der richtige Zug. Beim Einsteigen wurde uns hier viel geholfen und auch beim Aussteigen, als wir dann endlich in Prag waren. Da gab es die ganze Plackerei – umsteigen auf einen anderen Bahnsteig – noch einmal. Wir sollten nämlich direkt nach Brünn weiterfahren. Als wir es geschafft hatten erfuhren wir allerdings, dass an diesem Tag doch kein Zug mehr nach Brünn fahren würde und auch in den nächsten Tagen nicht. Wir gingen also wieder ins YMCA, das ich jetzt ja schon gut kannte.
Eigentlich freute ich mich über den Aufenthalt in Prag, denn jetzt war ich ja ohne Lehrer oder andere Aufsichtspersonen hier. Es gab zwar immer noch die strikte Anweisung, dass wir nie allein und immer nur in BDM-Uniform unterwegs sein durften. Aber abgesehen davon hatte ich keine Einschränkungen. Und das bedeutete für mich: Ich konnte mir Prag ansehen. Vor kurzem hatte ich nämlich den Film „Die goldene Stadt“, mit Kristina Söderbaum gesehen, der mir sehr gefallen hatte. Wahrscheinlich auch deshalb, weil er in Farbe war. Das war etwas ganz neues, bis dahin hatte ich immer nur Schwarz-Weiß-Filme gesehen. Und nun war ich selbst in Prag und schlenderte über den Wenzelsplatz. Zum Hradschin bin ich allerdings nie gekommen. Der war ja auf der anderen Seite der Moldau und dort durften wir nicht hin. Wir durften keine der Brücken betreten. Und selbst wenn wir es trotzdem hätten machen wollen, wäre es nicht gegangen. An allen Brücken standen deutsche Soldaten und kontrollierten jeden der hinüber wollte. Wer hinüber durfte weiß ich nicht, wir jedenfalls nicht.
Auf der Fahrt nach Brünn mussten wir dann noch zwei mal umsteigen. Und das alles mit diesem Mammutgepäck. Die Fahrt von Prag nach Brünn war auch in anderer Hinsicht nicht ganz einfach. Waren auf der Strecke von Berlin nach Prag nur Soldaten mit im Zug gewesen, so waren es von Prag nach Brünn nur Tschechen; also Zivilisten, kein Militär. Und uns war ja immer eingeschärft worden, uns vor den Tschechen in acht zu nehmen. Wir sollten ja vor allem deshalb immer BDM-Uniform tragen, damit wir sofort als deutsche Mädchen erkennbar wären. Denn in den Ortschaften und vor allem in Prag waren ja überall deutsche Soldaten. Wenn irgendetwas wäre, würden sie sofort einschreiten, sagte man uns - wenn sie uns als Deutsche erkennen.
Und jetzt waren wir vier Mädchen hier unter lauter Tschechen im Zug nach Osten unterwegs. Und durch unsere Uniform natürlich auch sofort als Deutsche erkennbar, nur gab es hier keine deutschen Soldaten. Wir fühlten uns vielleicht nicht bedroht, aber doch recht unwohl. Von den Tschechen hat uns dann übrigens auch bei keiner Gelegenheit jemand mit dem Gepäck geholfen, wenn wir umsteigen mussten. Es blieb immer alles an mir hängen.
Aber wir sind gut angekommen und ich weiß noch, dass ich eine Woche lang nur schlafen wollte.