Über die Grenze
April 1945
Wenn man lange in einem Güterwagen unterwegs ist, stellen sich auch einige sehr spezielle Probleme ein (auf die ich hier aber gar nicht näher eingehen möchte) - denn es gibt natürlich keine Toilette. Außerdem fragten wir uns, wie sparsam wir mit unserem Proviant sein mussten. Für drei Tage etwa hatten wir Verpflegung mitbekommen, aber wir kamen ja kaum voran. Wann würden wir am Ziel sein?
Die Tatsache, dass es nicht voran ging, belastete uns sehr. Immer, wenn wir durch einen Bahnhof rollten, lasen wir noch tschechische Ortsbezeichnungen. Und die Leute auf dem Bahnhof hoben nun die Faust gegen uns, drohten ganz offen und beschimpften uns. Vermutlich galt das zwar eher den Lazarettwagen, uns konnte man in dem Güterwagen ja nicht sehen, aber es machte die Abneigung gegen Deutsche ganz allgemein deutlich. Bis Pilsen ging es noch einigermaßen. Aber in Pilsen, wo wir längere Zeit auf dem Bahnhof standen, war es offener Hass gegen uns. Und danach in fast allen Orten, durch die wir kamen. Wir hätten gerne so oft wie möglich die Türen geöffnet, damit es nicht so stickig war, haben das in den Bahnhöfen aber bald gelassen. Wir machten uns große Sorgen. Was geschieht mit uns, wenn wir nicht mehr über die Grenze kommen? Wir hatten ja nicht die geringste Ahnung, was außerhalb unseres Güterwaggons geschah. Wo waren die Russen? Wo die Amerikaner? Wo verlief die Frontlinie?
Ich weiß es noch ganz genau, es war mitten in der Nacht, als plötzlich jemand rief: „Ich habe eben ein deutsches Schild gesehen!“ Aber welcher Ort es war, das wusste sie nicht. Wir freuten uns alle sehr, waren aber auch skeptisch und warteten auf den nächsten Bahnhof. Das war dann tatsächlich Furth im Wald. Da hielt der Zug dann richtig im Bahnhof und vom Roten Kreuz erhielten wir alle eine warme Suppe. Nach drei Tagen endlich wieder etwas Warmes zu essen.
Es dauerte noch fast zwei weitere Tage, bis wir in Weiden waren, denn die Fahrt ging mit genauso langen Haltezeiten und häufigem Fliegeralarm weiter. Aber nun hatte ich keine Angst mehr. Würde ich hier einmal nicht mehr rechtzeitig in den Zug kommen, dann konnte ich ins nächste Dorf laufen. Dort verstand man meine Sprache, dort konnte ich auf Hilfe hoffen. Aber zum Glück ist das nie passiert.
Schlimm war es noch einmal in Cham. Der Zug konnte dort nicht in den Bahnhof einfahren und stand weit vor der Stadt auf der Strecke. Fliegeralarm. Eine Militärstreife kam und riet uns, auszusteigen und durch den Wald nach Cham zu laufen. Unsere Waggons würden dort sowieso abgehängt werden, ein neuer Zug zusammengestellt.
Es war Vormittag und es war schon sehr warm. Nach dieser langen Fahrt im Güterwagen, wo wir uns ja kaum bewegen konnten, kam uns jetzt ein Gang durch den Wald sehr gelegen. Wir wurden ja sowieso erst am Nachmittag erwartet. Die Soldaten von der Streife beschrieben uns den Weg. Zuerst mussten wir einen kleinen Berg hinauf. Das war recht anstrengend. Und so machten wir oben erst mal eine längere Pause. Es war ein Genuss, draußen in der Natur zu sein, an diesem schönen, sonnigen Tag. Cham sahen wir in einiger Entfernung im Tal liegen, das wäre also nur noch ein kleiner Spaziergang, wir konnten uns Zeit lassen. Und dann hörten wir die Flugzeuge. Es war ein strahlend blauer Himmel und sie sahen wie kleine silberne Fische aus. Es waren unheimlich viele und sie flogen sehr hoch. Ein Geschwader nach dem anderen. Was war wohl ihr Ziel?
Wir lagen auf dem Waldboden und sahen in den Himmel. Jeder machte sich so seine Gedanken beim Anblick der vielen Flugzeuge. Sie waren schon alle vorbei, als plötzlich ganz laut auch hinter uns Flugzeuge zu hören waren. Und ehe wir es uns versahen, flogen sie einen Angriff auf Cham, warfen unzählige Bomben. Wir waren wie erstarrt. Hätten wir nicht die Pause auf dem Berg gemacht, wären wir genau in diesen Bombenhagel hineingelaufen.
Unsere Waggons konnten wir dann am Nachmittag wieder besteigen. Sie waren unversehrt, denn sie standen zum Zeitpunkt des Angriffs immer noch an der Stelle, wo wir sie Morgen verlassen hatten, weit außerhalb der Stadt. Unsere Bahnfahrt ging dann nur noch bis Weiden. Dort wurden wir mit unserem Gepäck auf LKWs verladen und nach Kemnath gebracht. Der Stadtkommandant wies uns in die leerstehende Hauswirtschaftsschule ein. Es war sicher eine seiner letzten Amtshandlungen.