DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Wieder in Weimar

3. Juni 1945

Nach einer gar nicht langen Fahrt hielt der Zug in Weimar und ich stieg aus. Vom Bahnhof aus war nicht zu sehen, ob in der Stadt viel zerstört war. Eigentlich sah alles ganz normal aus. Ich schulterte meinen Rucksack und machte mich auf den letzten Rest des Weges. Der Weg vom Bahnhof zu meiner Oma war nicht weit. Höchstens 20 Minuten. Die Häuser standen noch alle, mir fiel ein Stein vom Herzen. Trotzdem wurde ich immer langsamer. Was würde meine Oma sagen, wenn ich plötzlich vor ihr in der Tür stehe?

Am 26.05. bin ich am Nachmittag in Kemnath losgegangen. Jetzt war es der 03.06., um die Mittagszeit und ich hatte mein Ziel erreicht, ich stand vor der Tür meiner Oma, bereit zu klopfen.

Sie war auch wirklich zu Hause, öffnete die Tür - und es geschah, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte: Sie erkannte mich nicht. Das hat sie später noch sehr oft erzählt, wie da plötzlich diese völlig fremde junge Frau mit dem dicken Rucksack vor ihr stand und sie erwartungsvoll anschaute. Aber genaugenommen war das auch kein Wunder. Nach der langen Zeit auf der Straße, bei diesem herrlichen Sommerwetter, da war ich so braun gebrannt, wie sie mich vorher noch nie gesehen hatte. Älter war ich auch geworden, dazu dieser riesige Rucksack. Und sie rechnete natürlich auch überhaupt nicht mit mir. Mein Erscheinen war wirklich eine Überraschung. Aber sie war froh, dass ich da war und überlegte sofort, bei wem ich wohnen könnte.

Es hatte sich nämlich allerhand geändert. Zu meinem Onkel Martin, bei dem ich früher immer gewohnt hatte, konnte ich nicht mehr. Mein Onkel, früher Oberstadtdirektor in Weimar und als Beamter auch Mitglied in der Partei, war jetzt Straßenfeger. Meine Oma hatte Sorge, er könnte durch mein Erscheinen vielleicht Schwierigkeiten bekommen. Es war auch so schon alles schwer genug für ihn. Aber ich hatte ja noch mehr Verwandte, zum Beispiel Tante Hanna, die jüngste Tochter meiner Oma. Sie hatte zu Beginn des Krieges geheiratet. Aber mein neuer Onkel, den ich noch gar nicht kannte, war noch als Soldat an der Front. Wobei, eine Front gab es ja nicht mehr, aber er war eben noch nicht nach Hause zurückgekehrt.

Hanna lebte also allein mit ihrem dreijährigen Sohn. Sie wohnte etwas außerhalb von Weimar. Bei ihr war Platz für mich und sie wäre dann auch nicht so allein. Außerdem könnte ich mich auch ein bisschen um den Kleinen kümmern. Mir war alles recht. Ich war so froh und glücklich, dass ich den Marsch gut überstanden und das letztlich alles so gut geklappt hatte, da war die Frage der Unterkunft für mich nicht von so großer Bedeutung. Schließlich hatte ich die letzte Zeit nur in Scheunen geschlafen. Und ich war wieder inmitten meiner Familie. Aber was meine Oma von Onkel Martin erzählte, das hat mich doch erschüttert. Wie konnte es angehen, dass ein so stiller, ruhiger Mann, der gern Cello spielte und niemals laut wurde, jetzt die Straße fegen musste?

Noch einmal schulterte ich also mein Gepäck, aber nun zum letzten Mal. In Weimar würde ich wohl einige Zeit bleiben. Auch meine Tante war sehr verblüfft, als wir bei ihr eintrafen. Aber sie stimmte der Idee meiner Oma direkt zu, sehr froh, nicht mehr mit ihrem kleinen Sohn allein zu sein. Sie hatte auch ein kleines Zimmer, in dem ich wohnen konnte. Als das geklärt war, hatte ich nur drei Wünsche: baden, die Füße hochlegen und schlafen. Und diese Wünsche ließen sich zum Glück auch erfüllen. Mit Wasser sollte gespart werden, aber die Wanne brauchte ja nicht voll zu sein. Schon allein das Gefühl in einer Wanne zu liegen, war einfach unbeschreiblich. Auch mich danach in einen Sessel zu setzen und die Füße hochzulegen, war wunderbar. Allerdings waren sie immer noch derart geschwollen, dass sie nicht mehr in meine Schuhe passten. Meine Tante gab mir deshalb ein Paar von meinem Onkel, zwei Nummern größer. Die habe ich dann in der ersten Zeit getragen.

Und jetzt so richtig ausschlafen. Aber daraus wurde nichts. Mein kleiner Cousin wollte schon am frühen Morgen sehen, wer denn da in dem Zimmer schlief. So wurde ich also doch früh geweckt. Aber das war auch ganz gut so, denn es gab eine Menge zu erledigen. Vor allem brauchte ich unbedingt eine Lebensmittelkarte. Nach dem Frühstück gingen wir darum gemeinsam in die Stadt, zum Rathaus und zur Polizei. Ich hatte den amerikanischen Passierschein und die Entlassungsbescheinigung der Schule dabei. Das waren meine einzigen Dokumente, denn einen Personalausweis für Kinder gab es damals nicht. Aber das genügte, damit war ich angemeldet in Weimar und registriert. Aber eine Lebensmittelkarte bekam ich trotzdem noch nicht. Statt dessen drückte man mir eine Karte in die Hand, mit der Auflage sie auszufüllen und damit am nächsten Morgen früh um 07.00 Uhr auf dem Platz vor der Post zur Abfahrt zu erscheinen. Ich verstand überhaupt nichts und wollte fragen, was ich da sollte. Doch meine Tante zog mich schnell weg und flüsterte mir zu, ich solle still sein, sie würde mir alles erklären. Ich ließ mich wegziehen, war aber sehr gespannt, um was es dabei ging.

Zu Hause angekommen, erklärte mir meine Tante, dass man erst dann eine Lebensmittelkarte bekäme, wenn man in Buchenwald gewesen war. Die Karte, die ich erhalten hatte und ausfüllen sollte, musste ich dort vorlegen. Beim Verlassen des Lagers würde sie dann abgestempelt. Damit könnten wir dann am nächsten Tag die Lebensmittelkarten abholen. Ich verstand das alles nicht. Was war Buchenwald? Warum war der Erhalt einer Lebensmittelkarte von einem Besuch dort abhängig? Und warum sprach meine Tante so leise und flüsterte in ihrer eigenen Wohnung, wenn sie darüber sprach? Aber es wurde noch rätselhafter als ich wissen wollte, was es dort zu sehen gäbe. „Etwas Schreckliches“, das war die einzige Antwort. Nichts weiter als das: “Etwas Schreckliches. Du wirst es schon sehen!“

Was meinte sie nur? Was ist "etwas Schreckliches"? Aber sie wollte nicht weiter mit mir darüber reden. Sie sagte nur, dass sie alle dort hin gemusst hatten. Jeder Einzelne aus Weimar. Vorher bekam niemand eine Lebensmittelkarte. Und damit wurde an diesem Tage nicht mehr darüber gesprochen.

Ich hatte aber auch gar keine Zeit, mich weiter damit zu beschäftigen, denn plötzlich klingelte es und meine Oma stand mit einem fremden Mann vor der Tür. Der zusammengewürfelten Kleidung nach, war es vermutlich ein Soldat. Männer wie ihn hatten wir auf unserer Wanderung viele gesehen. Dann stellt sich heraus, dass es Hans war, ein Cousin meiner Mutter, den ich eigentlich hätte erkennen müssen. Aber es war mir mit ihm gegangen, wie meiner Oma mit mir, wir hatten uns alle verändert. Meine Einschätzung allerdings, dass er ein Soldat auf dem Heimweg war, war richtig. Er war an der Westfront gewesen, jetzt entlassen und auf dem Weg nach Hause, also nach Berlin. Er war gerade erst angekommen, wollte aber am nächsten Tag schon weiter. Aber meine Oma hatte die gute Idee, dass er einen Brief von mir an meine Eltern mitnehmen könnte. Ich setzte mich auch sofort hin und schrieb schnell das Wichtigste auf.

Er selbst wohnte zwar im Süden von Berlin, doch er wollte versuchen, zu meinen Eltern zu gelangen, um ihnen den Brief zu bringen. Wir wussten ja alle nicht, wie es in Berlin aussah. Da hieß es nun ganz schnell, das Wichtigste aufzuschreiben und zu hoffen, dass meine Eltern wohlauf waren und Hans sie auch finden würde. Es war ein echter Glücksfall, dass ich gerade am Tag vorher in Weimar eingetroffen war.

Der Brief erreichte meine Eltern tatsächlich. Durch ihn erfuhren sie, dass ich das Chaos des Kriegsendes heil und gesund überstanden hatte und mittlerweile wieder in Deutschland und sogar bei der Familie in Weimar war. Etwas, womit sie überhaupt nicht rechnen konnten.