DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Der Krieg beginnt

August/September 1939

Der Krieg begann am 1. September 1939. Damals war ich 9 Jahre alt. Sicherlich bedeutete mir diese Information damals nichts, aber ich erinnere mich, dass alle bedrückt und verstört waren. Und im Radio gab es keine Schlager und keine Tanzmusik mehr, nur noch Marschmusik.

Im August 1939 waren wir noch an der Ostsee gewesen, ich habe verschiedene Fotos die uns vergnügt am Strand zeigen. Da es keine früheren Bilder in der Art gibt, war es wahrscheinlich unser erster Urlaub am Meer; vielleicht auch unser erster Urlaub überhaupt.

Zwei junge Mädchen in kurzen Sommerkleidchen, nebeneinander stehend, jede mit einer Hand am Mund, auf einem großen, mit Platten belegten Platz, wahrscheinlich ein Bahnhofsvorplatz. Im Hintergrund sieht man zwei Automobile.
Meine kleine Schwester Eva und ich auf der Rückfahrt aus dem Ostseebad Großmöllen.
Das war im August 1939, keine zwei Wochen danach begann der Krieg.

Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter nach dem Urlaub mehrere Paar Schuhe wegwarf und vorhatte, bald Ersatz dafür zu kaufen. Was dann aber nicht mehr ging, weil man auf einmal kaum noch etwas frei kaufen konnte. Lebensmittel gab es nur noch auf Karten. Und für Schuhe, Textilien und dergleichen gab es Bezugsscheine.

Lebensmittelkarten sollte ich wohl erklären: Man bekam für jeden Monat eine Karte mit Abschnitten für die verschiedenen Lebensmittel: Fett, Milch, Mehl, Fleisch und so weiter. So ganz genau weiß ich es auch nicht mehr. Die Karten hatten verschiedene Farben, je nach Kalorienbedarf. Schwerarbeiter bekamen mehr als Schüler. Und es gab extra Karten für Babys und Kleinkinder. Und ich weiß noch, dass meine Mutter sich immer darüber ärgerte, dass Frauen grundsätzlich weniger bekamen. Obwohl sie viel arbeiteten. Man bekam vom Kaufmann, Bäcker oder Fleischer nur das, wofür man noch einen Abschnitt hatte. Wenn man etwas kaufte, schnitt der Händler den entsprechenden Abschnitt der Karte ab und klebte ihn in ein Buch. Bezahlen musste man aber natürlich auch.

Wir wohnten damals in Lichtenrade, im Haus meiner Oma. Es war ein größeres Einfamilienhaus. Wir, das waren meine Eltern und meine kleine Schwester Eva. Wir bewohnten zwei Zimmer und Küche im 1. Stock. Unten wohnten Oma und Tante Erna. Der große Garten war geteilt. Die vordere Hälfte bewirtschafteten wir, die hintere Hälfte Oma. Es war eigentlich ein schönes, ruhiges Wohnen dort.

Ein schlichtes zweistöckiges Gebäude (EG + 1. Stock). Man erkennt auf jeder Etage an jeder Seite zwei Fenster und eins unter dem Giebel des Daches. Im Hintergrund ist ein weiteres Wohnhaus zu erkennen, ein ganzes Stück vor dem Haus ist ein Maschendrahtzaun, drum herum stehen Bäume, vermutlich Obstbäume.
Das Haus in Lichtenrade

Aber nun war Krieg. Und auch wenn der nicht bei uns stattfand, gab es doch auch für uns Veränderungen. Es gab z.B. Fliegeralarm. Sicher, zu Beginn des Krieges waren es nur sehr vereinzelte Flugzeuge. Aber das Sirenengeheul war entsetzlich.

Was tut man, wenn die Sirenen heulen? Man geht so schnell wie möglich in einen Luftschutzbunker. Aber wo sind welche? In der Stadt gingen die meisten Menschen in die U-Bahnstationen hinunter. Und es gab z.B. am Gesundbrunnen und am Bahnhof Zoo große Bunker. Lichtenrade aber gehörte erst einige Jahre überhaupt zu Berlin (damals 'Groß-Berlin'). Es war damals noch sehr ländlich, da gab es keine U-Bahn und auch keine Bunker. Deshalb wurde angeordnet, dass in jedem Haus ein Keller als Luftschutzraum (genauer: als Luftschutzkeller) eingerichtet werden musste.

Drei Personen stehen auf einem dicht gewachsenen Rasen, vor einer Hecke, die an einer Hauswand hinaufrankt. Ganz vorn steht ein strahlendes junges Mädchen, hinter ihr ein etwas älteres Mädchen, die Arme über die Schultern der Kleinen vor ihr gelegt. Direkt hinter ihnen steht eine erwachsene Frau, nur einen halben Kopf größer als das Mädchen. Sie hat die Hand auf ihrer Schulter. Alle lächeln und stehen sehr dicht beieinander.
Mit Eva und meiner Tante Erna im Garten in Lichtenrade (1939)

Auch bei uns wurde das gemacht. Es kamen dicke Balken unter die Decke, die mit ebenso dicken Balken vom Fußboden her abgestützt wurden. Dann kamen Stühle herein und Decken. Eine Taschenlampe musste sein und Eimer mit Sand. Falls Brandbomben abgeworfen wurden, sollten sie mit dem Sand abgedeckt werden.

Wie schon gesagt, es gab zu Anfang noch nicht so oft Alarm. Und Bomben wurden bei uns damals auch noch nicht abgeworfen. Aber umso beängstigender war es, mitten in der Nacht durch die Sirenen geweckt zu werden. Schnell anziehen und in den Keller, denn die Artillerie schoss manchmal schon, kaum, dass die Sirenen verklungen waren.

Eine Ausschnitt aus einer alten Landkarte. Die Berliner Innenstadt ist rot hervorgehoben und zeigt ein relativ gleichmäßiges Straßennetz. Heutige Randbezirke sind weit davon entfernte Dörfer.
Umgebungskarte Berlin, vom Anfang des 20. Jh.
Lichtenrade liegt etwas oberhalb der Mitte des unteren Randes
und ist erkennbar nur ein Dorf. 1939 war es schon deutlich größer.
Reinickendorf, wo wir später wohnten, ist fast genau gegenüber,
am oberen Rand der (roten) Innenstadt.

Und die Geschütze waren laut! Sie waren auf Güterwagen montiert und fuhren auf den Bahngleisen immer hin und her. Und die Bahnstrecke verlief parallel zu unserer Straße und war nur drei oder vier Querstraßen entfernt. Das war schon eine ganz schön laute Knallerei. Und in der Nacht ganz besonders beängstigend.

Aber, wie Kinder nun einmal sind, am Morgen war das bereits vergessen und wir gingen auf die Straße, Granatsplitter suchen. Die waren silbrig glänzend und hatten ganz bizarre Formen. Alle Kinder machten das, Jungen und Mädchen. Und später am Tage haben wir uns auf dem Spielplatz getroffen und uns gegenseitig unsere Schätze gezeigt. Die Splitter waren übrigens so spitz, dass man sie nicht in die Tasche stecken durfte. Wenn man vergaß, dass man einen eingesteckt hatte und man bückte sich plötzlich, dann konnte er einem noch eine blutende Wunde bescheren.