Ins KLV-Lager
Ostern 1942
Die Zeit verging. Es war um die Osterzeit 1942. Da wurde angeordnet, dass alle Kinder über zehn Berlin verlassen sollten. Ich weiß noch, dass ich es damals ungerecht fand, dass die kleineren Kinder bleiben konnten. Ich wäre viel lieber auch bei meiner Familie geblieben. Aber natürlich weigerte ich mich nicht, ich war immer sehr folgsam. Es wurde überlegt, mich wieder nach Weimar zu schicken. Aber Weimar erschien meinen Eltern nicht als geeignet, warum weiß ich nicht. Vielleicht fanden sie, dass es eine ähnlich wichtige Stadt wie Berlin sei und deshalb auch Ziel von Bombenangriffen sein könnte (meine Mutter stammte aus Weimar). In jedem Fall wussten sie, dass es dort häufig Fliegeralarm gab. Später habe ich aber erfahren, dass es nur wenige Bombenangriffe auf Weimar gab.
In den beiden vorangegangenen Kriegsjahren war es Eltern freigestellt gewesen, ihre Kinder aus Berlin wegzuschicken. Weil aber die Bombenangriffe ständig zunahmen, waren viele Kinder schon zu Verwandten nach Ostpreußen, Schlesien oder Bayern gebracht worden. In der Schule haben wir oft darüber geredet. Manche Mädchen freuten sich woanders hin zu kommen, weil es dort besonders schön war oder sie bei diesen Verwandten mehr Freiheiten hatten. Andere waren traurig, weil sie wussten, dass sie in eine strengere Familie kamen. Aber nun hatte man keine Wahl mehr, alle Kinder mussten weg. Wir allerdings hatten keine Verwandten im Osten, deshalb erschien meinen Eltern Weimar als die einzige Möglichkeit. Aber da wurde in der Schule bekanntgegeben, dass man ab sofort Kinder für ein KLV-Lager anmelden konnte. KLV stand für: Kinderlandverschickung.
Die KLV gab es auch schon vor dem Krieg, aber da waren es einfach Ferien- und Erholungslager gewesen. Jetzt wurden sie zu Kinderflüchtlingslagern. Ganze Schulen wurden in solche Lager 'umgesiedelt'. Aus meiner Schule fuhren wir mit 60 Mädchen, dazu 6 Lehrerinnen und der Schuldirektor. Es waren Schülerinnen aller Klassenstufen, außer der letzten, der achten. Diese Mädchen waren schon 18 und wurden zum Arbeitsdienst verpflichtet. Ich hatte Glück, aus meiner Klasse kamen noch fünf Mädchen mit und wir wurden später zusammen in einem Zimmer untergebracht. Es waren keine engen Freundinnen, aber es war sehr schön, diese vertrauten Gesichter um mich zu haben. Die anderen Mädchen meiner Klasse fuhren zu Verwandten.
Nachdem die Möglichkeit der Verschickung bekanntgegeben worden war, ging alles sehr schnell. Wir würden noch im Mai abreisen. Aber bis dahin war noch viel zu tun. Zum Beispiel mussten wir alle Sachen kennzeichnen. Das bedeutete, dass ich in alle meine Kleidungsstücke und die Bettwäsche meinen Namen sticken musste. Alle Sachen würden nämlich in einer Großwäscherei gewaschen werden und mussten nachher ja wieder zugeordnet werden können.
Und wir mussten sehr, sehr viele Sachen mitnehmen. Wir fuhren im Mai los, sollten aber auch Wintersachen einpacken. Also einen Mantel, Schal, Pullover, Winterschuhe und so weiter. Aber nicht nur das. Wo wir hinfuhren würde es nichts für uns geben, deshalb mussten wir auch unser Bettzeug mitnehmen. Und das bedeutete auch eine dicke Winterdecke. Außerdem natürlich alle Schulbücher, Hefte und Stifte. Selbst der dicke Atlas musste mit. Für meine Bettdecke hatte mein Vater irgendwie einen Zuckersack organisiert, das weiß ich noch. Der war aus einem besonders dichten Stoff gewebt. Auch die Schulmappe kam mit. Auf der Fahrt würde ich darin meinen Proviant haben.
Wir hatten also alle sehr viel Gepäck. Viel mehr, als ein Kind tragen konnte. Und das war kein gutes Gefühl. Die Stimmung auf dem Bahnhof war denn auch sehr gedrückt. Wir fuhren im schönsten Frühlingswetter los, hatten aber unsere dicken Wintersachen dabei. Das machte es uns sehr deutlich, dass wir für unabsehbar lange Zeit wegbleiben würden. Und wir wussten gar nicht, was unser Ziel war. Nur, dass es tief in der Tschecheslowakei lag. Damals hieß sie für uns allerdings 'Protektorat Böhmen und Mähren'. Kurz gesagt, wir fühlten uns recht hilflos und verlassen.