DINGS OHNE D

Als ich hörte, dass wir an einem Lazarettzug angekoppelt waren, war ich irgendwie beruhigt. In meiner Vorstellung bedeutete das Sicherheit. Lazarettwagen haben ja alle ein großes rotes Kreuz auf dem Dach. Die Flugzeuge sehen das von oben und greifen diesen Zug dann nicht an. Dachte ich. Stimmt vielleicht auch. Aber was denken Tiefflieger, die einen Lazarettzug sehen, an dem hinten drei Güterwagen angehängt sind?

Die Fahrt ging über Prag, Pilsen, Furth, Cham, Schwandorf bis nach Weiden und dauerte vier Tage. Die Wartezeiten waren oftmals länger als die Fahrtzeiten. Wir standen oft stundenlang, am Tag und in der Nacht. Aber am Schlimmsten war es, wenn wir lange auf freier Strecke stehen mussten. Dann überlegten wir uns immer, ob vor uns in der Stadt gerade Fliegeralarm war oder ob wir nur einen Gegenzug abwarten müssen. Es gab aber auch oft Alarm. Wenn wir dann gerade durch ein Waldgebiet fuhren, was oft der Fall war, mussten wir den Zug verlassen.

Den Zug verlassen, das hört sich so einfach an. Aber es gab ja keine Stufen an der Tür und es war auch kein Bahnsteig da, auf den man hätte steigen könnte. Wenn wir an unserer offenen Tür standen, ging es ziemlich weit hinunter. Allein die Höhe der Räder, dazu noch das Schotterbett auf dem die Schienen liegen und oft kommt dann noch eine Böschung. Da hieß es einfach: Augen zu und springen. Dann schnell auf der anderen Seite die Böschung wieder hinauf klettern und geradeaus in den Wald hinein rennen. Wenn wir die Tiefflieger im Anflug hörten, dann sollten wir uns unter Büschen und Bäumen verstecken. Das haben wir auch getan. Doch ob wir dadurch weniger gut zu sehen waren, wage ich zu bezweifeln. Es war Anfang April und da ist noch nicht allzu viel Laub an den Bäumen. Aber wenn man dort im Wald ist, denkt man nicht an solche Sachen.

Irgendwann, nach oft endlos erscheinender Zeit, kam dann das Signal zum Zurückkommen. Dann rannten wir alle so schnell wir konnten. Denn jeder hatte Angst, der Zug könnte plötzlich ohne ihn losfahren. Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie wir alle immer wieder so schnell in den Zug gekommen sind. Angst verleiht wohl tatsächlich Flügel. Der Rückweg war nämlich viel schwieriger. Es ist leicht irgendwo hinunter zu springen, aber zurück hinauf?

Die größeren Kinder hatten, wenn sie im Graben neben dem Zug standen, dessen Räder ungefähr auf Augenhöhe vor sich. Aber die Schiebetür ist wesentlich höher. Was nun? Es gibt keine Leiter und erstmal ist niemand da, der einem hilft. Und man ist furchtbar aufgeregt und gehetzt. Unsere Biologielehrerin war die jüngste unserer Lehrerinnen und sie half uns vor allem beim Ein- und Aufstieg. Sie hangelte sich irgendwie hoch, lag dann lang auf dem Boden, ließ sich so weit wie möglich hinaushängen und zog die kleineren Mädchen, die wir Großen hochhielten, in den Zug. Problematischer wurde es dann, wenn wir an der Reihe waren. Uns hob niemand hoch. Aber Not macht erfinderisch. Als wir das zweite Mal draußen waren und wieder einsteigen mussten, hatte sie aus einem der Koffer ein Laken geholt, es oben festgebunden und unten mit einer Schlaufe versehen. Da konnte man seinen Fuß hineinstellen und hatte einen gewissen Halt. Ich war damals in der 5. Klasse (also im 9. Schuljahr) und schon recht groß. So konnte ich vielen Kleineren Hilfestellung geben.

Manchmal gab es Alarm und wir verließen den Zug, aber es blieb doch alles ruhig. Bei anderen Gelegenheiten kamen Tiefflieger und beschossen den Zug. Und natürlich auch das Gelände daneben. Aber wir hatten Glück, niemand von uns wurde verletzt. Wären wir allerdings im Zug geblieben, hätte es wohl anders ausgesehen, unser Waggon hatte am Ende der Reise zahlreiche Einschusslöcher. Und einmal wurde unsere Lokomotive so getroffen, dass wir eine neue benötigten. Was natürlich auf einer größtenteils eingleisigen Strecke sicher nicht einfach war. Aber irgendwann kam sie. Wenn es wieder mal ein sehr langer Aufenthalt war, kam manchmal einer der Begleitoffiziere vom Lazarettzug zu uns und gab uns einen Lagebericht. Das war sehr nett, denn wir wussten ja nie warum wir hielten.
Aber hat es uns beruhigt? Ich weiß es nicht. Vermutlich wurde nur unsere Phantasie angeregt. Wir wollten eigentlich nur so schnell wie möglich zurück nach Deutschland.