DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

In Kiritein

Heiligabend 1944

Nun war ich also wieder in meiner alten Klasse. Zusammen mit den Mädchen, die ich schon aus meinem ersten Jahr kannte. Und auch die mir vertrauten Lehrerinnen waren da. Und unser Direktor, bei ihm hatten wir Mathematik. Aber unsere Klasse war nicht vollzählig. Diejenigen, die früher schon zu Verwandten in Ostpreußen oder Schlesien gefahren waren, die blieben dort. Die Menschen und der Unterricht waren mir also recht vertraut, alles andere aber war ganz ungewohnt. Damit meine ich nicht, dass es sich von Berlin unterschied. Das war klar. Ich meine, dass es ganz anders war als in Luhatschowitz.

In Luhatschowitz hatte die Schule außerhalb des Unterrichts nichts zu sagen gehabt. Über alles hatte der Bund bestimmt, der BDM. Das war in Kiritein nicht so. Hier gab es im ganzen Ort nur einzige Vertreterin des BDM, eine 19-jährige Gruppenführerin. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, wir nannten sie immer Brummer. Die nächste größere Stelle des Bundes war weit weg, in Zlin. Das liegt rund 50 Kilometer entfernt und war damit praktisch ohne Bedeutung für uns.

Es gab also keine Scharführerinnen – wie Moritz in Luhatschowitz – aber es gab für jedes Zimmer eine 'Stubenmutter'. Das war immer ein Mädchen aus der siebten Klasse, unsere hieß Astrid. Da wir mittlerweile aber auch schon in der fünften waren, hatte sie bei uns nicht allzu viel Autorität. Sie war mehr eine Ratgeberin. Man konnte sie Sachen fragen, mit denen man nicht unbedingt zu den Lehrerinnen gehen wollte. Bei den Kleinen war das ganz anders. Die hatten sehr viel Heimweh, weinten oft und mussten dann in den Arm genommen und getröstet werden.

Aber auch ein Mädchen aus unserer Klasse litt sehr unter der Entfernung von ihrer Familie. Wenn sie längere Zeit keine Post bekam, ging es ihr furchtbar schlecht. Sie hatte einen 5-jährigen kleinen Bruder, den sie sehr liebte und um den sie sich immer Sorgen machte. Ihre Mutter war schon vor einiger Zeit gestorben und der Vater hatte noch einmal geheiratet. Aber ihre Stiefmutter war oft krank. Der Vater war Soldat und natürlich irgendwo an der Front. So wusste sie nie, ob sich jemand um ihren Bruder kümmerte, wenn die Mutter vielleicht im Krankenhaus lag. Manchmal schrieb ihr eine Nachbarin. Aber eigentlich bekam sie recht wenig Post, hatte immer Sorge und weinte viel. Astrid ging dann immer mit ihr spazieren und redete viel mit ihr. Sie tat uns sehr leid, aber wir konnten ihr auch nicht helfen.

Auch waren wir ganz anders untergebracht als in Luhatschowitz. Der Ort wurde, wie schon gesagt, von der großen Kirche beherrscht. Die Gegend dort ist sehr hügelig, hinter der Kirche ging es einen ziemlich steilen Weg nach oben, dort waren die Lager- und Wirtschaftsräume der Kirche. Und in diesen Räumen waren wir untergebracht. Alles war dort oben. Die Schlaf- und Aufenthaltsräume, die Klassenzimmer, ein kleiner Leseraum. Nur eine Küche gab es nicht und somit auch keinen Essraum. Gekocht wurde für uns unten im Ort, in einem früheren Lokal. In dem nahmen wir alle unsere Mahlzeiten ein. Im Sommer war der steile Weg nach oben ein Konditionstraining. Im Winter aber, wenn es geschneit hatte und der Weg vereist war, dann war es schon recht schwierig, nach oben zu kommen. Das machte sich dann die Dorfjugend zu Nutze, in dem sie uns aus dem Hinterhalt mit Schneebällen bewarf. Es tat schon weh, wenn die trafen, denn sie waren eigentlich mehr aus Eis als aus Schnee.

Auch der Ort selbst war so ganz anders. War ich doch vorher in einem Kurort gewesen, mit vielen kleinen Läden, in denen es immer noch irgend etwas zu kaufen gab. Für Geschenke zum Beispiel, die wir nach Hause schickten, oder wenn Jemand aus unserem Zimmer oder der Klasse Geburtstag hatte. Kiritein dagegen war ein ganz kleiner Ort. Ein Wallfahrtsort, geprägt von einer riesigen Zisterzienser Kirche. Deren Betreten uns aber strengstens verboten war. Natürlich gab es im Ort auch einen kleinen Laden. Mit Souvenirs für die Wallfahrer. Aber als ich dort hinkam, war er schon ziemlich ausverkauft. Es ging für uns dort also recht spartanisch zu. Wir konnten nicht mal einen Bleistift oder einen Radiergummi kaufen. Dazu mussten wir unsere Wünsche auf einer Liste eintragen. Einmal in der Woche fuhr eine Lehrerin mit einem der großen Mädchen aus der 7. Klasse nach Zlin zum Einkaufen. Da es in Kiritein weder Bus- noch Bahnverbindung gab, kam auf Absprache mit dem Bund in Zlin ein Auto, holte die Lehrerin zum Einkaufen ab und brachte sie danach auch wieder zurück. Manche unserer Wünsche wurden erfüllt, andere mussten wir aufgeben.

Auch der Unterricht war hier völlig anders. Zwar konnten wir auch hier in Chemie und Physik keine Experimente machen, aber für Erdkunde und Biologie war sehr viel Anschauungsmaterial aus Berlin mitgenommen worden. Sogar der große Flügel aus der Aula war in Kiritein. So gab es für die 6. und 7. Klasse auch Klavierunterricht. (Ob er extra von den Eltern bezahlt werden musste, weiß ich allerdings nicht). Dazu fällt mir aber auch noch ein, dass ich niemals vorher so viele Gedichte lernen musste und noch nie so viele Geschichtszahlenarbeiten geschrieben habe.

Da der Ort ja sehr klein war und wir niemals weg fuhren, waren wir in dieser Zeit sehr auf die Schule konzentriert. Wenn man bedenkt, wie nah die Front an manchen Stellen schon der deutschen Grenze war, dann lebten wir in Kiritein eigentlich sehr ruhig und abgeschieden. Der Winter war sehr kalt dort. Unsere Zimmer mussten wir selbst heizen, mit Holz. Leider war es oft noch etwas nass, sodass der Ofen mächtig qualmte und wir ihn noch nicht schließen konnten, wenn wir zum Frühstück hinunter gingen.

Wie kalt es war, wird ganz schön aus diesem Brief deutlich, den ich damals nach Hause schickte:

“Nun muß ich Euch noch etwas bestellen. Frl. Funk (unsere Englischlehrerin) fragte mich neulich, ob ich mir nicht eine Trainingshose schicken lassen könnte. Ich wollte das erst nicht schreiben, denn ich ziehe sowieso immer 2 Paar Strümpfe an und meist noch Kniestrümpfe oder Socken drüber. Doch wir haben jetzt –15 bis -18 Grad Kälte. Und wenn wir den täglichen Ausmarsch machen kann man doch ganz schön frieren, denn auf den Höhen pfeift der Wind noch mehr als im Tal. Nun möchte ich Euch bitten, mir vielleicht doch noch die Trainingshose zu schicken, denn ich brauche sie hier wirklich nötig.

Frl. Funk ist ja wirklich sehr besorgt um uns. Mir möchte sie jetzt am Liebsten ein Kleid mit langen Ärmeln geben. Aber das brauche ich wirklich nicht. Wenn mir oben herum wirklich mal kalt sein sollte, ziehe ich einfach meine Kletterweste oder die blaue Jacke über. Auch unterm Mantel. Da geht es dann.“

Das Gute am Winter ist ja, dass es da irgendwann Weihnachten wird. Hier ein Ausschnitt aus einem Brief an meine Eltern über den Ablauf Heiligabend 1944:

„... wir gingen nach unten und warteten vor dem Tagesraum. Als alle da waren, ging es unter Flötenspiel in den festlich geschmückten Raum, wo uns die Lehrer schon erwarteten. Wir sangen ein Weihnachtslied, dann spielte Frl. Funk ein Stück von Beethoven. Und StudRat Meyer schwang seine Weihnachtsrede. Dann sangen wir noch ein Lied und jede Klassenmutti führte ihre Küken zu ihren Plätzen.

Da gab es aber ein Staunen. Was wir alles vom Lager bekamen, und das im 5. Kriegsjahr. Eine Tischkarte mit schwarzem Scherenschnitt zeigte jedem seinen Platz. Auf meinem Platz lag: 1 Stundenplan, 1 Bleistift, 1 Mappe Briefpapier, 1 Heft „Was uns Rosegger erzählt“, „Mozart auf der Reise nach Prag“, „Immensee“ und andere Sommergeschichten. Ferner ein kleines Fotoalbum, 1 Bilderständer, 1 Holzschale, ungefähr ½ Pfund Bonbons, 2 Würfel Marzipan und 11 Kekse. Als wir das bewundert hatten, fing ein wallfahrten zu den Lehrern an, bei denen wir uns bedankten.“