Direktorenpost
März 1945
Wo wir schon gerade bei Briefen sind, den folgenden Brief unseres Direktors mussten wir im März 1945 nach Hause schicken. Zur Erläuterung für dich: Das bedeutete, dass jede von uns ihn abschrieb, denn eine Möglichkeit der Vervielfältigung gab es ja nicht. Ich habe ihn, zusammen mit vielen anderen aus der Zeit meiner Verschickung, nach dem Tod meines Vaters gefunden. Wenn ich ihn heute wieder lese, befremdet mich der optimistische Ton und die Vorspiegelung einer schulischen Normalität doch sehr. Schließlich hatten wir täglich Fliegeralarm und es zogen endlose Flüchtlingstrecks durch den Ort. Und zwei Monate später war der Krieg vorbei.
Gumpolds, den 4.3.45
Lagerleiterbrief
Liebe Eltern!
Die vor einigen Monaten angekündigte Verlegung unserer Schule ist inzwischen zur Tatsache geworden. Am 3.2.45 sind die Klassen 2 – 5, mit dem Notwendigsten versehen, von Kiritein abgefahren. Am 20.2.45 folgten die Klassen 6 und 7, die das Verpacken des erheblich angewachsenen Umzugsgutes zu besorgen hatten. Zwei Güterwagen waren nötig, um das Gepäck der Mädel, die Kisten mit Büchern und Schreibmaterial, die Nähmaschinen, Schränke, Regale, Karten, Physikapparate und den Flügel fortzuschaffen. Am 29.2.45 ist alles wohlbehalten in Gumpolds eingetroffen.
Unser neues Lager, das Waisenhaus, ist mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet. Wie Ihnen die Briefe Ihrer Tochter wohl schon verraten haben. Auch die Art der Verpflegung ist mit der in Kiritein nicht zu vergleichen. Wir haben also in dieser Beziehung einen guten Tausch gemacht.
Der Unterricht findet in einem anderen Lager, in der Hauptschule, statt, wo etwa hundert Schüler der F.B.S. (Charlottenburg) und je 40 Schülerinnen der Kriemhild und der Marie v. Ebner-Eschenbach-Schule untergebracht sind. Wir sind also in schulischer Hinsicht nicht mehr selbstständig. Leiter der Gesamtschule ist Oberstudiendirektor Dr. Chudzinsky. Der Unterricht wird vollkommen friedensmäßig durchgeführt und dieses Ziel war ja der Grund für unsere Verlegung. Auch der lang entbehrte Musik- und Turnunterricht kommen nun wieder zu ihrem Recht. Für unsere Mädel bleibt also eigentlich nichts zu wünschen übrig.
Es ist mir bisher gelungen, die Selbstständigkeit unseres Lagers durchzusetzen. Wir hoffen, dass nun recht viele Mädel aus Reinickendorf zu uns kommen, damit wir hier nicht verdrängt werden, sondern eine dauernde Ausweichstelle halten können. Auch Sie bitte ich, dabei mit für unser Lager zu werben. Wegen der Sicherheit machen Sie sich keine Sorgen. Seien Sie überzeugt, dass alles getan wird, was nur möglich ist; wenn Sie von Feindeinflügen nach Böhmen hören, so wissen Sie, dass die Lage unseres Lagers und die getroffenen Maßnahmen größtmögliche Sicherheit bedeutet.
Die Kürzung der Lebensmittelrationen trifft natürlich auch die KLV Lager, doch macht sie sich in der Gemeinschaftsverpflegung weniger bemerkbar als in den Familien, zumal der Ausfall aus Beständen der KLV Lager gemildert werden kann. Wir sind jetzt allerdings kein E-Lager (Erholungslager) mehr wie in Kiritein, wo uns besondere Zuteilungen zustanden. Aber alle diese Einschränkungen wären nur ein kleines Opfer, gemessen an dem großen Leid, das Tausende erdulden müssen. Kinder und Eltern können dankbar sein und sind es auch, dass die Schule bisher so ruhig und abseits der Kriegsereignisse leben durfte. Für unsere 7. Klasse ist diese abseitige Ruhe nun allerdings zu Ende, denn soeben erreichte uns die Nachricht, dass sie zum Kriegseinsatz für Aufgaben der KLV 3 Monate lang herangezogen wird. Wir hätten dieser eifrigen Klasse gern noch einige Monate Ausbildung gegönnt. Wir glauben aber fest, dass sie sich im Einsatz genauso bewähren wird, wie im Schul- und Lagerleben.
Unsere herzlichsten Wünsche gehen hinaus zu den Eltern, die in schwerer Arbeit und unsäglichen Mühen den Alltag des 6. Kriegsjahres bezwingen. Wir wünschen Ihnen alles Gute.
Gumpolds, 3.3.45 am Tage, an dem wir auch auf 1 ½ Jahre unseres Lagerlebens zurückblicken können.
Heil Hitler!
gez. Dr. Müller
Dieser Brief und andere haben das Kriegsende überdauert, weil mein Vater sie all die Jahre aufbewahrt hat. Verwundert bin ich allerdings darüber, dass die Briefe damals ihr Bestimmungsziel überhaupt erreicht haben. Nach dem Brief des Lagerleiters habe ich allein im März noch zwölf Briefe geschrieben, die meine Eltern auch erhalten haben.
In den Briefen mache ich mir z.B. Gedanken darüber, wie ich aus zwei zu eng gewordenen Sommerkleidern eines machen kann. Und frage an, ob meine Mutter von den Kleidern vielleicht noch Stoffreste hat, die ich dann mit verwenden könnte. Über Ostern berichte ich und was es dafür vorher für Aktivitäten gab. Osterkörbchen basteln, Osterwasser holen, Lieder singen, Eier suchen usw. Lauter Sachen, die nicht auf ein nahendes Kriegsende hindeuten. Und zwischendurch schreibe ich von meiner Verwunderung darüber, dass die Post manchmal so lange geht. Bis zu 2 Wochen!