Auflösungserscheinungen
Mai 1945
Nach drei Tagen kamen dann die anderen. So lange brauchten wir aber auch, um das Haus wieder ordentlich herzurichten. Unsere Lehrerin hatte inzwischen mit der zuständigen amerikanischen Stelle verhandelt und sich die Zusicherung geholt, dass wir in dem Haus bleiben konnten. Das war schon gut. Aber eigentlich wollten wir ja wieder nach Berlin zurück. Doch davon wollte der amerikanische Offizier, der ab und an bei uns vorbei schaute, nichts wissen. In Berlin waren die Russen und da durften wir nicht hin. Wir hätten nur in eine Stadt innerhalb der amerikanischen Besatzungszone gehen können.
Wir hatten nun wieder eine passable Unterkunft, mit einzelnen Räumen, einer Küche und richtigen Betten - das war eine großartige Verbesserung unserer Lage. An unserem Hauptproblem änderte das allerdings nichts, wir hatten nach wie vor nichts zu essen. Mittlerweile hatte unser Direktor irgendwie Lebensmittelkarten organisiert, aber man musste das Essen ja auch bezahlen und wir hatten kaum Geld. Wir Kinder hatten an Bargeld noch das, was von unserem Taschengeld übrig war. Das war sehr wenig. Viele von uns, ich auch, hatten auch Sparbücher dabei, die hatten die Eltern für den Notfall mitgegeben. Nur nützten die nichts, weil davon kein Geld ausgezahlt wurde. Später wurde es dann 1:10 abgewertet. Die Lehrerinnen und unser Direktor hatten auch nur das, was sie bei sich trugen. Sie bekamen ja auch kein Gehalt mehr. Es war eine schlimme Situation und wir verbrachten eigentlich alle den Tag immer nur damit, irgendetwas zu essen zu besorgen.
Dann, es muss in der letzten Maiwoche gewesen sein, gab es plötzlich große Aufregung. Drei Mädchen aus der 6. Klasse hatten beschlossen uns zu verlassen und auf eigene Faust zu Verwandten nach Bayern zu gehen
Sie waren dabei, ihre Sachen zu packen und wir sahen zu und waren gespannt, wie das enden würde. Wir konnten uns beim besten Willen nicht vorstellen, dass unser Direktor das erlauben würde. Er redete lange mit ihnen in einem Raum, wir konnten nichts hören. Aber dann ging die Tür auf und die drei kamen heraus. Jede hatte ein Schreiben des Direktors in der Hand, mit dem Schulstempel beglaubigt. Er war also tatsächlich damit einverstanden. Wir waren sehr überrascht. Mit dem Schreiben gingen sie zum amerikanischen Stadtkommandanten und bekamen dort einen Passierschein. Das ging ganz schnell. Schon am frühen Nachmittag verabschiedeten sie sich und zogen los.
Uns ließen sie in großer Unruhe zurück. Wir besprachen das in allen Einzelheiten. Waren sie mutig? Oder leichtsinnig? Würden wir das auch machen? Nein, das würden wir nicht! Darin waren wir uns alle einig. Und vermutlich dürften wir auch gar nicht gehen. Es war sicher eine Ausnahme gewesen, dass unser Direktor zugestimmt hat. Doch am nächsten Tag ging es weiter. Schon am Vormittag gingen wieder zwei aus der sechsten und die letzten drei aus dieser Klasse verließen uns am Nachmittag. Damit waren wir, die fünfte, plötzlich die Großen.
Plötzlich sprachen wir ganz anders über diese Möglichkeit und ich dachte ernsthaft darüber nach, zu meinen Verwandten in Weimar zu gehen. So weit war das gar nicht.
Wenn ich daran zurückdenke, staune ich über uns. Eigentlich waren wir es gewohnt zu tun, was man uns sagte. Ständig unter irgendeiner Aufsicht zu sein. Immer gab es jemanden, der für uns zuständig war, der Dinge anordnete. Und jetzt verließen die Mädchen nach und nach die vertraute Obhut und nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass sich diese Ordnung, die wir unser ganzes Leben lang gekannt hatten, aufgelöst hatte. All die Autoritäten die bis dahin unser Leben bestimmt hatten, die Partei, die Armee, der Bund - waren verschwunden. Allein unsere Lehrerinnen und der Direktor waren noch da. Aber eine Schule im eigentlichen Sinne waren wir ja auch schon lange nicht mehr.
Aber vielleicht war dieses Verschwinden der Ordnung für uns auch bedrohlich und wir wollten deshalb so schnell wie möglich zu unseren Familien? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht mehr sagen, was mir damals durch den Kopf ging. Ich glaube, es waren vor allem praktische Erwägungen. Wie lange würde ich brauchen? Würde das Geld reichen, das ich noch hatte? Solche Sachen. Was uns glaube ich am wenigsten schreckte war die Aussicht, eine ziemlich weite Strecke zu laufen. Das waren wir gewohnt.
Ich ging ins Bett mit dem Gedanken, mir das alles in Ruhe zu überlegen und abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden.