DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Den Ranzen schnüren

26. Mai 1945

Aber daraus wurde nichts. Am nächsten Morgen hieß es, dass wir vermutlich das Haus räumen müssten und anderswo hingebracht würden. Wohin? Das stand noch nicht fest. Schon wieder einen Umzug – nein, da wollte ich dann doch lieber meine Idee vom Vortag verwirklichen. Wenn wir wirklich wieder umziehen müssten, würde ich nach Weimar gehen. Da ich so eine lange Wanderung unmöglich mit meinem Koffer in der Hand antreten konnte, begann ich sofort einen Rucksack zu nähen. Das hatte ich mir schon am Abend vorher überlegt. Und zwar würde ich ihn aus einer der grauen Militärdecken machen, von denen es im Haus eine Menge gab.

Wie näht man einen Rucksack? In der Höhe sollte er von der Taille bis zu den Schultern gehen. Also schnitt ich solch einen breiten Streifen von der Decke. Dann kam ein Oval in meiner Schulterbreite, doppelt im Stoff, als Boden. Der wurde nun mit doppeltem, rotem Perlgarn angenäht (Mädchen haben so etwas bei sich). Oben wurde etwas Stoff umgenäht, damit man eine Schnur zum binden durchziehen konnte. Nun blieben noch die Träger. Die sollten nicht drücken und daher schön breit sein. Dazu nahm ich den Stoff 3-fach, damit er sich nicht zusammenrollt. Aber wo annähen? Ich erinnerte mich an meine alte Schulmappe, die ich auf dem Rücken trug. Da waren die Träger auch nicht an der Seite, sondern in der Mitte der Mappe gewesen. Und so nähte ich die Träger auch an meinem Rucksack an. Zum Schluss kam noch eine Klappe oben drüber, die mit einer Schnur etwas unterhalb festgebunden wurde. Fertig war der Wanderrucksack.

Während ich noch eifrig am Nähen war, nahm die Unruhe im Haus immer mehr zu. Und dann überschlugen sich die Ereignisse. Am frühen Nachmittag kam ein amerikanischer Offizier und teilte uns mit, dass wir das Haus in zwei Stunden geräumt haben müssten. Da stand mein Entschluss fest. Ich würde nach Weimar gehen. Was war ich froh, dass ich meinen Rucksack schon fast fertig hatte. Ich ging zum Direktor, holte mir von ihm die Bescheinigung mit dem Schulstempel, dann in die Stadt um mir den Passierschein ausstellen zu lassen. Das klappte alles ganz unproblematisch. In Weimar standen auch die Amerikaner, da durfte ich hin.

Jetzt noch schnell den Rucksack packen, dann konnte es losgehen. Aber ganz so schnell ging es dann doch nicht, ich musste ja alles sorgsam und mit Bedacht verstauen. Nichts sollte mich im Rücken drücken. Und dann die Entscheidung: was nehme ich mit – was lasse ich zurück? Das war nicht einfach, momentan war das Wetter schön, aber das konnte sich ja schnell ändern. Und während ich noch packte, bekam ich eine schöne Überraschung: Ich würde Gesellschaft haben. Ursel und Rita, zwei Mädchen aus meiner Klasse, wollten mit mir zusammen gehen. Nicht den ganzen Weg, aber den größten Teil. Ihr Ziel war Erfurt, das liegt fast auf gleicher Höhe wie Weimar. Das war schön. Es war sicher ein Vorteil, nicht allein unterwegs zu sein.

Schließlich war der Rucksack fertig gepackt. Nichts ging mehr hinein. Konnte ich ihn auch tragen? Er war ziemlich rund und recht groß ausgefallen. Ändern konnte ich jetzt aber nichts mehr. Er musste so genommen werden wie er war. Meine restlichen Sachen hatte ich im Koffer verstaut - und den habe ich dann tatsächlich im September in Berlin aus der Schule abholen können.

Vor dem Haus war wieder Trubel. Ein Lastwagen der Armee war angekommen und wollte uns in unser neues Haus fahren. Nun aber schnell weg. Es gab keine langen Abschiedsszenen, nur noch die letzten Handgriffe am Gepäck. Ich hatte noch einen Mantel, den ich anziehen wollte wenn es kälter war. Da im Augenblick noch die Sonne schien, band ich ihn unter meine Rucksackklappe. Und hätten mich die anderen nicht daran erinnert, hätte ich um ein Haar in der Küche mein Kochgeschirr vergessen. Aber wohin damit? Der Rucksack war so voll, da ging überhaupt nichts mehr hinein. Dann hatte ich noch meine Aktentasche. Die wollte ich in der Hand tragen. Aber die war auch voll. Wohin also damit? Letzte Möglichkeit: hinten an der Rucksackklappe anbinden. So ging das sicher. Ein letzter Blick in die Runde, denen, die in das neue Haus fuhren, noch einmal zugewinkt und dann hinaus auf die Straße. Der Weg nach Weimar begann.