DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Brief ins Krankenhaus

August 1941

Abschrift des Briefes an meinen Vater

Berlin – Reinickendorf – Ost, 19.8.41

Lieber Paps!
(Viel Glück zu Deiner Krankheit.)

Ich will Dir mal jetzt den ziemlich ereignisreichen Rückweg schildern. Wir wollten etwas kaufen, beim Schlächter, und gingen daher einen anderen Weg. Unterwegs sahen wir Schokoladengeschäfte und gingen hinein. Aber keiner hatte etwas. Da wurden wir ungeduldig. Es kam nämlich auch kein Schlächter. An der Immelmannstr. gingen wir zu Hefter. Dort kauften wir Wurst und Pumpernickel (250 gr.). Weil wir aber kein Mittag gegessen hatten, waren wir alle 3 sehr hungrig. Wir machten also das Paket Pumpernickel auf und aßen (jeder) alles auf, bis auf eine Scheibe. Mutti würgte auch noch eine Scheibe Wurst hinunter. Wir gingen noch in ein Schokoladengeschäft und mussten der 35 (Straßenbahn) daher hinterher rennen. Süßigkeiten hatten wir immer noch nicht.

Als wir eine Weile gefahren waren, bis Lindenstr., hielt die Straßenbahn auf einmal. Vor uns war die 99 E. Wir wussten erst gar nicht, was los war. Vorn, bei der 99 E, standen die Schaffner und redeten viel. Einige rannten ins Räucherwarengeschäft, andere hielten Autos an und 2 unterhielten sich und zeigten aufgeregt an den vorderen Wagen der 99 E. In der 35 wusste niemand, was lös war. Wir saßen ungefähr 10 Minuten, als ein Schaffner herein kam und sagte:“ Wer es eilig habe, der soll ein Stück weiter laufen und in eine andere Bahn steigen, eh wir weiter fahren dauert es noch eine ganze Weile.“ Wir erhoben uns und gingen hinaus. Draußen erfuhren wir, was los war.

Eine Frau war in die Straßenbahn gelaufen. Wir gingen also, wie gesagt, und standen plötzlich vor einem BOLLE Geschäft. Unterdessen war das Überfallkommando eingetroffen. Bevor wir aus der Bahn gingen, ließ sich Mutti ihre Karte (Fahrt 4) gültig machen. Da ein starker Regen einsetzte, gingen wir in unsere alte 35 zurück. Da fingen wir nun an, unsere Pralinen zu essen. Die Bahn fuhr bald ab. Sie wurde später auch sehr voll. Als wir zu Hause waren, fragte Herr Schumann nach Dir. Ich ging dann noch und holte für Mutti ein Buch.

Jetzt muss ich leider Schluss machen, denn der Brief soll noch weg.
Viele Grüße
Deine Tochter
Gisela

Zuletzt noch eine Warnung:
„Solltest Du mich je vergessen,
sollt’ Dich gleich der Wauwau fressen“.
Gisela

Lieber Otto!
Weil morgen keiner zu Dir kommen kann, sollst Du einen Brief von uns haben. Zu Hause ist es gar nicht schön ohne Dich. Man wartet und wartet und weiß nicht, auf was. Für die langen Nächte hat Gisela mir ein Buch geholt. Wenn Du nachts wach liegen musst, dann kannst Du an mich denken, denn ich schlafe auch nur kurze Zeit, ich werde immer wach und muss über unser Unglück nachdenken. Ich wünsche Dir ein frohes Herz und wenig Schmerzen.
Deine Maria

Ich finde, dieser Brief zeigt, dass wir zu dieser Zeit noch ein relativ normales Leben geführt haben. Abgesehen davon, dass unser Vater im Krankenhaus lag und wir nicht wussten, wie er die doch sehr schweren Verletzungen überstehen würde. Aber Lebensmittelkarten und leere Schokoladengeschäfte sind nichts besonderes mehr.

Am 07.11.1941 wurde unser Vater nach Hause entlassen. Dass es gerade dieses Datum war, nahmen wir als ein gutes Zeichen, denn es war bei uns schon ein ganz besonderes. Am 07.11.1927 haben unsere Eltern geheiratet. Am 07.11.1940 sind sie von Lichtenrade nach Reinickendorf gezogen. Und nun war es auch der Entlassungstag aus dem Krankenhaus.

Aufgrund dieser Verletzung würde unser Vater übrigens auch nicht mehr eingezogen werden. Und das war ja auch ein Grund zur Freude. Als Dienstwohnungsinhaber war er zwar befreit, denn der Telefonverkehr musste unbedingt sichergestellt sein. Aber wer konnte sagen, ob das immer so bleiben würde?

Ein sehr dunkles Foto, auf dem drei größere, sowie einige kleine Puppen und ein Teddybär zu sehen sind. Einige Puppen liegen in einer sehr schlichten Wiege, über der ein karierter Stoff hängt. Puppen und Teddy tragen Kleider, dem Teddy fehlt ein Auge.
Geschenke Weihnachten 1941
Wobei nicht die Puppen die Geschenke waren, sondern ihre Kleider. Die Puppen wurden einige Zeit vor Weihnachten 'eingezogen' und tauchten dann zu Heiligabend frisch eingekleidet wieder auf. Und sie trugen das gleiche wie wir, weil sie aus Stoffresten unserer Kleider gemacht waren.

1941 war das letzte Weihnachten, das ich im Krieg zuhause feierte. Ich weiß noch, dass ich außer neuen Puppenkleidern auch eine Schultasche bekam. Die hatte mein Vater aus Lederresten selbst angefertigt, weil es im Krieg keine Lederwaren zu kaufen gab. Er erfüllte mir damit einen großen Wunsch, denn die Bücher die ich für die Oberschule brauchte, passten nicht in meinen alten Ranzen. Vor allem der große Atlas nicht, den musste ich deshalb immer unter dem Arm tragen. Also hatte er ihn als Maß für die Tasche genommen und nun passten alle Bücher problemlos hinein. Leider war die Tasche dadurch nicht so elegant, wie ich sie mir erträumt hatte und ich schämte mich ein wenig mit ihr. Aber sie leistete mir später noch oft gute Dienste.