DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Isoliert

Juli/August 1943

Es war mittlerweile Juli 1943 und wir hatten Ferien. Wir machten immer noch fast alles gemeinsam mit Moritz, durften uns aber seit einiger Zeit auch schon unbeaufsichtigt im Ort bewegen. Allerdings nie allein oder auch nur zu zweit. Mindestens zu dritt mussten wir sein, besser noch mehr. Da war die Lagerleitung sehr streng. Und wir wurden dringend dazu angehalten, uns auf keinen persönlichen Kontakt zu den Tschechen einzulassen. Wir durften in den Geschäften einkaufen, sollten uns aber möglichst nicht ansprechen lassen und immer zusammenbleiben. Als Grund hieß es, dass die Tschechen uns nicht wohlgesonnen seien. Ich weiß noch, dass uns das wunderte. Denn diejenigen, die wir erlebten - das waren in erster Linie die Frauen, die in den Häusern arbeiteten - waren sehr nett zu uns, bemutterten uns geradezu. Aber uns wurde gesagt, dass wir auch zu ihnen möglichst wenig Kontakt haben sollten.

An so einem schönen Sommermorgen fühlte ich mich plötzlich sehr matt und schlapp und mochte gar nicht aufstehen. Die anderen sagten gleich Moritz Bescheid. Als sie kam, um nach mir zu sehen, war ich schon ganz apathisch und kaum noch ansprechbar. Deshalb holte sie gleich die Krankenschwester und zusammen brachten sie mich ins Krankenzimmer. Das gab es in jedem der Häuser. Wenn eine von uns sich nicht gut fühlte, kam sie dort hin. Aber maximal für zwei, drei Tage. Wenn es ernster war, kam man ins Krankenhaus. Das war aber kein tschechisches Krankenhaus, sondern eines das in einem ehemaligen Hotel für uns eingerichtet worden war. Im Haus Miramonti. Das stand ganz allein auf einer Anhöhe, mitten im Wald.

Der Weg dorthin begann praktischer Weise direkt vor unserer Tür. Er ging die ganze Zeit leicht bergan und hinauf bis zum Haus brauchten wir wohl gut eine halbe Stunde. Immer wenn jemand aus unserem Zimmer dort war, machten wir - wenn es passte - nachmittags kurze Besuche.

Jetzt lag ich also im Krankenzimmer und dämmerte so vor mich hin. Irgendwann kam eine Ärztin, sah mich kurz an und entschied, dass ich sofort ins Krankenhaus müsste. Diagnose: Scharlach. Das war eigentlich nicht sehr überraschend, denn es hatte im Ort eine Scharlachepidemie gegeben. Nur dachten wir, dass die vorbei war. Und ich konnte es vor allem deshalb nicht glauben, weil ich Scharlach mit sechs Jahren schon einmal gehabt hatte. Und es hieß doch, dass man das nur einmal bekäme. Damals lag ich jedenfalls sechs Wochen im Krankenhaus, das war gar keine schöne Zeit gewesen. Ich hatte mich sehr verlassen gefühlt, weil ich natürlich keinen Besuch bekam. Und jetzt sollte ich womöglich wieder sechs Wochen alleine irgendwo liegen? Das mochte ich gar nicht glauben. Aber es war tatsächlich so.

Ich wurde also ins Haus Miramonti gebracht, ganz nach oben, in die vierte Etage. Dort war auf der linken Seite die Isolierstation und auf der rechten die Quarantänestation. Dorthin kamen die Mädchen aus meinem Zimmer und mussten dort zwei Wochen bleiben. Soweit ich mich erinnere, wurde von ihnen aber keine krank. Nur mich hatte es irgendwie noch erwischt. Und ich würde tatsächlich sechs Wochen hier bleiben müssen.

Die ersten 10 Tage war ich wirklich schlapp. Doch dann ging es mir langsam wieder besser und meine Lebensgeister kehrten zurück. Aber damit kam auch die Langeweile. Es gab kaum Bücher auf der Station, ich durfte wegen der Ansteckungsgefahr keine Briefe schreiben und Besuche in anderen Zimmern durfte ich auch nicht machen. Draußen war es warm und schön, aber ich durfte auch nicht raus. Ich hatte das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben, denn sie verging überhaupt nicht.

Aber meine Zimmergenossinnen hatten mich nicht vergessen. Eines Tages hörte ich Gesang. Einen Chor. Es klang nicht so, als käme es aus dem Haus. Aber von draußen? Haus Miramar stand ja weit ab von allen anderen, mitten im Wald. Ich trat also auf den Balkon hinaus, den mein Zimmer gottseidank hatte und sah mich um. Und traute meinen Augen nicht. Unten stand Moritz mit der ganzen Schar und dirigierte. Sie brachten mir ein Ständchen. Ich war zu Tränen gerührt, wusste gar nicht was ich sagen sollte. Wollte auch nicht aus dem vierten Stock hinunterrufen. Also konnte ich nur klatschen als sie fertig waren und sich verbeugten. Aber ich war nicht die Einzige, es gab aus vielen Fenstern Applaus. Für alle Kranken war es eine gelungene Abwechslung gewesen.

Von da an kamen sie öfter mal vorbei. Wenn auch nicht immer mit der ganzen Schar. Die Mädchen aus meinem Zimmer kamen auch schon mal ganz allein. Sie gaben sich sehr viel Mühe, mir ein wenig die Zeit zu vertreiben. Eines Tages, es war vielleicht nach drei Wochen, bekam ich einen dicken Brief. Ich war überrascht, denn er hatte keine Briefmarken, war also nicht mit der Post gekommen. Wer mir da wohl schrieb? Und so viel?

Neugierig öffnete ich den Brief und war total verblüfft. Es war ein kleiner Schreibblock drin, Buntstifte, ein Bleistift und ein Radiergummi. Ein kurzer Brief von Moritz und ein weiterer Umschlag. Darin waren lauter selbst verfasste Silbenrätsel. Aber ohne Auflösung. Doch mit dem Versprechen, dass ich die mit dem nächsten Brief, so in drei bis vier Tagen, erhalten würde.

Dazu muß ich sagen, dass wir uns gelegentlich früher schon gegenseitig Silbenrätsel gemacht hatten. Meist war es dabei um ein bestimmtes Schulfach gegangen. Überwiegend um Geschichte oder Erdkunde. Aber manchmal auch um ganz allgemeine Fragen. Es hat uns allen immer viel Spaß gemacht. Nun war das den Mädchen offensichtlich wieder eingefallen und sie hatten sich alle an der Erstellung beteiligt. Das fand ich ganz toll von ihnen.

Mit soviel Unterstützung und den regelmäßigen Besuchen verging dann auch die restliche Zeit irgendwie. Nach sechs Wochen konnte ich dann endlich wieder zurück, als eines der letzten Opfer der Scharlachepidemie. Die Ferien waren längst vorbei und der Schulalltag hatte mich wieder.