DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

In die Oberschule

Ostern 1940

Im nächsten Jahr gab es für mich eine Veränderung. Ostern 1940 begann für mich das 5. Schuljahr und das hieß, ich kam auf eine andere Schule. Die ersten vier Schuljahre ging man in die Volksschule (heute Grundschule), danach konnte man auf die Mittelschule oder die Oberschule kommen. Ich kam auf ein Lyzeum. Das war eine Oberschule, in der nur Mädchen waren. Leider hatte ich damit einen wesentlich weiteren Schulweg. An diese Zeit kam ich mich kaum noch erinnern. Aber ich weiß, es war so weit, dass ich nicht mehr mit dem Fahrrad fahren konnte. Stattdessen fuhr ich mit der Straßenbahn in die Schule und zur Haltestelle lief ich eine Viertelstunde. Mein Fahrrad hatte ich übrigens schon zur Einschulung in die Volksschule bekommen, weil der Weg dorthin auch recht weit war.

Eine Gruppe von 48 Kindern, im Gras, vor einem Gebüsch. Im Hintergrund sieht man vereinzelte Häuser. Vorne sitzen am Boden die Jungs, die Mädchen stehen hinten, in der hinteren Reihe auf Stühlen. In der Mitte hinten steht ein formal gekleideter, streng blickender Mann. Es sind etwas mehr Mädchen als Jungs. Kaum eines der Kinder lächelt.
Mein Klassenfoto zur Einschulung in Lichtenrade, 1936.

Aber in diesem Lyzeum blieb ich nicht lange, denn schon zum Ende der großen Ferien wurde ich nach Weimar gebracht. Dort wohnte ich bei Onkel Martin, dem einzigen Bruder meiner Mutter. Und als nach den Ferien die Schule wieder begann, ging ich in Weimar zur Schule. Warum ich nach Weimar sollte weiß ich nicht mehr, aber wahrscheinlich, um mich in Sicherheit zu bringen. Es erschien viel weniger wahrscheinlich, dass Weimar bombardiert wurde, als Berlin.

Aber auch bei meinen Eltern gab es eine Veränderung. Mein Vater bekam eine Stelle mit einer Dienstwohnung in Reinickendorf und wir zogen deshalb von Lichtenrade fort. Als Fernmeldetechniker war er künftig für die Vermittlungsstelle im Postamt zuständig. Den Umzug habe ich nicht miterlebt, aber als ich Weihnachten nach Hause kam, wohnten wir schon in der neuen Wohnung. Ich brauchte dann auch nicht mehr zurück nach Weimar, sondern wurde am Lyzeum in Reinickendorf angemeldet. Drei verschiedene Schulen in der 1. Klasse der Oberschule, das war schon ganz schön anstrengend.

Eine Gruppe von 38 jungen Mädchen, in der Ecke eines Klassenzimmers an Schulbänken sitzend bzw. auf ihnen stehend. Fast alle von ihnen sehen lächelnd und aufgeweckt in die Kamera. In der Mitte der Gruppe sitzt eine weißhaarige, freundlich lächelnde ältere Dame. An der Wand hängt ein großes Gemälde, das eine Szene pausierender Kavalleristen zeigt.
Meine Oberschulklasse 1940 in Reinickendorf. Die erste Klasse des Lyzeums, aber für mich schon die dritte erste Klasse in diesem Jahr.

Aber die neue Wohnung war schön. Wir hatten viel Platz, was man von Lichtenrade nicht gerade behaupten konnte. Ein großes Wohnzimmer, einen sehr langen Korridor, aber vor allem hatten wir, Eva und ich, jetzt zusammen ein eigenes Zimmer. Das war ein bis dahin unvorstellbarer Luxus. In Lichtenrade hatte ich immer auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen und Evas Bett stand mit im Schlafzimmer der Eltern.

Und dann gab es noch etwas großartiges Neues: Unser Vater, der ja Fernmeldetechniker war, hat für jeden von uns einen Detektor mit Kopfhöreranschluss gebaut. So konnte ich z. B. Radio hören während Eva ein Buch las. Und umgekehrt. Ein Detektor ist eine frühe Form des Radios. Für mich war es einfach ein sonderbarer, milchiger Stein (heute weiß ich, dass es ein Kristall war), über den man vorsichtig eine Nadel bewegte. Und wenn man die richtige Stelle gefunden hatte, kam Musik aus dem Kopfhörer!

Aber leider war ja die Zeit nicht friedlich und es gab nach wie vor Fliegeralarm. Wahrscheinlich sogar häufiger. Hier, in dieser Wohnung, war das alles schon ein wenig anders. Die Post ist ja ein öffentliches Gebäude und die Sirene war auf unserem Dach. Unsere Wohnung lag im 3. Stock, in der Etage darüber war ein Wählersaal. Dann kam der riesige, aber leere Dachboden. Wenn hier die Sirene heulte, fiel man wirklich fast aus dem Bett. Dann hieß es, schnell anziehen, die drei Treppen runter und in den Luftschutzkeller.

Der Luftschutzkeller hier war nicht nachträglich eingerichtet wie in Lichtenrade. Er hatte zum Beispiel sehr dicke Türen, die den Raum hermetisch abschlossen. Sie erinnerten mich irgendwie an Kühlschranktüren, mit ihren großen Verschlusshebeln und der umlaufenden Dichtung. Wobei ich heute nicht mehr weiß, wo diese Erinnerung herkommt. Denn wir hatten damals noch lange keinen Kühlschrank. Wir, und alle anderen die ich kannte, hatten eine Kühlkiste. Darin wurden verderbliche Lebensmittel mit Eis gekühlt. Aber nur wenn es wirklich heiß war. Dann kaufte man Stangeneis. Das bekam man vom Eismann, der mit seinem Pferdewagen herumfuhr und es verkaufte. Die Stangen waren ungefähr einen Meter lang, so lang wie die Kühlkisten; jedenfalls die meisten. Man konnte, wenn man weniger brauchte, aber auch eine halbe oder eine noch kürzere Stange kaufen. Aber wie gesagt, das kaufte man nur bei großer Hitze. Im Winter konnte man die Sachen draußen kühlen und in der Übergangszeit behalf man sich irgendwie anders.

Aber zurück zum Luftschutzkeller: In dem in der Post war auch ein Raum des Militärs untergebracht, den durften wir nicht betreten. Ich glaube, dort liefen Informationen von verschiedenen Beobachtungsposten ein und wurden dann weitergegeben. Unser Vater durfte aber hinein. Und wenn wir alle dort unten saßen und auf Entwarnung warteten, tat er es auch manchmal und fragte, wie lange es wohl noch dauert. Ob die Flugzeuge schon auf dem Rückflug waren oder ob etwa noch ein neuer Anflug gemeldet war. Und Berlin ist eine große Stadt. Manches Mal wurde mehr der südliche Teil bombardiert, mal waren wir im Norden mehr davon betroffen. In Reinickendorf waren ja die ARGUS - Motorenwerke. Dort wurden Motoren für LKWs und Flugzeuge hergestellt. Das war natürlich ein Angriffsziel der Bomber. Und die Fabrikhallen waren nur wenige Straßenbahnhaltestellen von uns entfernt.

Meist mussten wir sehr lange im Luftschutzbunker ausharren. Man ging ja runter, sobald Alarm gegeben wurde und der kam schon, wenn Bomber im Anflug gesichtet wurden. Da konnten die Maschinen aber noch sehr weit entfernt sein. Und Entwarnung gab es erst, wenn auch die letzten Maschinen abgedreht hatten und sicher nicht mehr umkehren würden. Das taten sie nämlich manchmal. Das waren sehr lange Stunden dort unten. Besonders schlimm war es, wenn man die Explosion der Bomben hörte. Denn dann wusste man ja, dass die eigene Gegend bombardiert wurde. Ich erinnere mich Gottseidank kaum noch an diese Nächte und wie es mir dabei ging, aber wie wird sich ein Kind schon fühlen, wenn es in einem Keller hockt, stundenlang Explosionen, Sirenen und Geschützfeuer hört und dabei genau weiß, wie ein Haus nach einem Bombentreffer aussieht?

Ein Mann sitzt an einem kleinen Tisch in einem Glasanbau, neben einer offenen Tür. Auf dem Tisch stehen eine Kaffeekanne, eine Tasse und ein kleiner Teller mit Gebäck. Er ist ordentlich gekleidet, dunkler Anzug mit steifem Hemdkragen und Krawatte. Er blickt nicht in die Kamera und lächelt nicht, er sieht melancholisch, ja traurig aus und schaut ins Leere.
Mein Vater, als junger Mann im Anbau des Hauses in Lichtenrade sitzend. Undatiert.

Wenn dann aber endlich Entwarnung gegeben wurde, musste mein Vater immer noch einen Kontrollgang in dem Wählersaal auf unserer Etage, in dem der 4. Etage und auf dem Dachboden machen. Es hätte ja sein können, dass irgendwo eine Brandbombe eingeschlagen war. Und die hatte dann vielleicht noch nicht begonnen zu brennen. Die Brandbomben, hat man uns erklärt, waren mit Phosphor gefüllt. Der lief aus und entzündete sich erst später. Da musste man den Phosphor so schnell wie möglich mit Sand abdecken. Dafür standen überall mit Sand gefüllte Eimer.

Manchmal habe ich meinen Vater auf seinem Rundgang begleitet. Wenn wir auf dem Dachboden unseren Gang beendet hatten, haben wir meist noch mal aus dem Fenster gesehen. Irgendwo, in weiter Ferne, sahen wir dann fast immer Feuerschein. Und waren froh, wenn er weit von uns weg war. Aber das war nicht immer so. Manchmal war er auch ganz schön nahe.