Vaters Sturz
Sommer 1941
Wie die Zeit vergeht. Es ist Sommer, sehr warm, das Obst ist reif. Wir haben immer noch unseren Gartenanteil in Lichtenrade. Aber der Weg dorthin führt einmal quer durch die Stadt. Reinickendorf ist im Norden, Lichtenrade im Süden Berlins. Um das Obst zu ernten und es dann wieder nach Hause zu bringen, müssen wir also weit fahren. Meist fahren wir mit dem Fahrrad. Damit können wir nämlich mehr transportieren als mit der Straßenbahn. Es ist auch schneller. Die Straßenbahn wäre zwar bequemer, aber sie hält furchtbar oft und wir müssten alles erstmal bis zur Haltestelle schleppen. Für das Fahrrad habe ich einen sehr großen Korb, den ich mir zur Sicherheit noch mit einem Gurt am Bauch festmache. So transportieren wir viele Äpfel, Kartoffeln und Möhren, die wir dann einlagern. Außerdem körbeweise Johannisbeeren, Pflaumen, Sauerkirschen und vielerlei Gemüse. Aus dem Obst kochen wir Marmelade, das Gemüse wecken wir ein.
Auf den Straßen sieht man jetzt kaum noch Männer. Alle sind eingezogen. Aber mein Vater ist noch da. Doch das hängt mit der Dienstwohnung zusammen. Er ist Techniker und dafür verantwortlich, dass im Wählersaal alles reibungslos funktioniert.
Den Wählersaal habe ich ja schon im letzten Kapitel erwähnt, aber was ist das eigentlich?
Das war ein sehr großer Raum voller ratternder Apparate, den Wählern. Sie stellten automatisch die Telefonverbindungen her. Verbanden also den Anschluss des wählenden Teilnehmers mit dem des angerufenen. Es war eine tolle Neuerung, denn bis dahin wurden alle Verbindungen von Hand hergestellt. Da saßen viele Frauen (es waren glaube ich immer Frauen) vor großen Steckbrettern und stellten die gewünschte Verbindung durch Einstecken eines Kabels her. In unserem Postamt gab es neben den beiden Wählersälen auch noch so eine herkömmliche Handvermittlung. Die Wählersäle waren über das ganze Stadtgebiet verstreut. Ich glaube, es gab zumindest in jedem Postamt einen oder mehrere und zusätzlich oft noch in extra Gebäuden. Und damals gab es noch wirklich viele Postämter.
Ich habe später selbst für einige Jahre in so einem Wählersaal gearbeitet. Es gab sie also mindestens bis in die 70er Jahre, wahrscheinlich noch länger.
Aber eigentlich wollte ich ja von einer wichtigen Begebenheit erzählen, die mit der Erntezeit zu tun hat: Wieder einmal bin ich nach Lichtenrade gefahren, Obst pflücken. Mein Vater wird später nachkommen. Als er dann eingetroffen ist, ruft ihn unsere Nachbarin, eine alte Dame. Sie fragt, ob er ihr nicht noch die Birnen aus der Krone ihres Baumes pflücken kann. Es ist ein sehr hoher und sehr alter Birnbaum. Mein Vater verspricht es ihr, holt sich eine Leiter und klettert in den Baum. Hoch und immer höher. Plötzlich ein Krachen. Ein morscher Ast bricht ab und mein Vater fällt auf den Boden. Entsetzlich. Was nun?
Wie der Arzt und der Krankenwagen benachrichtigt wurden, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass er ins Krankenhaus gefahren wurde und fast vier Monate darin blieb. Da wir zu Hause Telefon hatten, wurde meine Mutter vom Krankenhaus benachrichtigt. Als ich an dem Tag nach Hause kam, wusste sie zum Glück schon Bescheid.
Mein Vater lag in einem Krankenhaus in Tempelhof. Sechs Wirbel waren gebrochen. Es war schlimm, aber als er entlassen wurde, konnte er wieder laufen. Das war großes Glück. Es hätte auch anders ausgehen können.
Nun waren wir ständig unterwegs zum Krankenhaus. Und Tempelhof liegt vor Lichtenrade, der Weg war also ziemlich weit. Nach meiner Erinnerung war damals immer alles genau geregelt und so war es auch mit den Besuchszeiten: Nur eine Stunde und zwar zweimal in der Woche und am Wochenende. Vielleicht auch anderthalb, das weiß ich nicht mehr so genau. Nur eines sehe ich noch sehr deutlich vor mir. Und das ist die bewachte Eingangstür des Krankenhauses. Eine Schwester stand davor und öffnete die Tür nicht eine einzige Minute vor der Zeit. Aber dann war die Tür auf und wir rannten die Treppen hoch bis ins Zimmer unseres Vaters.
Bei den Briefen, die ich an meinen Vater geschrieben habe und die ich nach seinem Tode fand, ist auch einer aus dieser Zeit. Ich setze ihn einfach mal hier dazwischen.