DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Nach Weimar

Winter 1943/44

Der Herbst kam und er brachte eine einschneidende Veränderung. Eines Tages teilte mir Moritz mit, dass ich in den nächsten Tagen nach Hause fahren würde. Der genaue Termin stünde noch nicht fest, aber ich sollte schon mal anfangen zu packen. Ich war völlig überrascht. Was könnte der Grund dafür sein? War in Berlin irgend etwas passiert? Warum hatten mir meine Eltern das nicht in einem Brief mitgeteilt? Aber Moritz konnte mir auch nichts weiter sagen. Sie wusste nur, dass ich alle Sachen packen, nichts zurücklassen sollte. Das hieß, dass ich nicht nach Luhatschowitz zurückkäme. Aber wo würde ich denn dann hinkommen? Kinder durften doch nicht mehr nach Berlin und Schule gab es dort auch keine mehr. Aber meine Reise ging dennoch nach Berlin. Es war rätselhaft und ich machte mir viele Gedanken darum.

Plötzlich ging dann alles sehr schnell. In drei Tagen sollte ich abfahren. Da hieß es, alle Sachen zusammensuchen und überlegen, ob sie mit in den Koffer sollten oder ob ich ein extra Paket nach Hause schickte. Was sich aber auch im Laufe der Zeit so alles ansammelt! Ohne Paket würde es nicht gehen.

Der Abschied fiel mir sehr schwer. Wir hatten fast eineinhalb Jahre hier zusammengelebt und uns die meiste Zeit sehr gut verstanden. Getrennt von unseren Familien, in einem fremden Land, waren wir natürlich zu einer recht engen Gemeinschaft geworden. Jetzt sollte ich sie verlassen, wusste nicht warum und auch nicht wohin ich kommen würde. Nein, das Wegfahren fiel mir nicht leicht. Was ich damals zum Glück noch nicht wusste, heute aber sagen kann: Keines der Mädchen habe ich jemals wiedergesehen.

Dann war der Tag der Abreise da, zuerst ging es nach Prag. Bis dorthin saß ich mit fünf anderen Mädchen in einem Abteil, von denen ich aber keine kannte. Es war eine ganz komfortable Fahrt, weil wir nur unser Handgepäck dabei hatten, um das große Gepäck kümmerte man sich. Wie schon auf der Hinfahrt, übernachteten wir im YMCA-Haus. Aber dieses Mal war es eine unruhige Nacht. Ich konnte schlecht schlafen, irgend etwas störte mich. Am nächsten Morgen sah ich den Grund: Wanzen. Überall. Wir haben das sofort gemeldet und mussten dann das Zimmer räumen. Durften nur das Handgepäck mitnehmen, unser großes Gepäck blieb im Raum. Dann halfen wir noch dem Hausmeister, die Fenster und Türen zu verkleben, denn das Zimmer wurde desinfiziert. Auch unser großes Gepäck, das ja im Zimmer stand. Später habe ich dann alle Sachen gründlich gelüftet. Aber mein Deckbett roch noch lange nach dem Desinfektionsmittel.

Diesmal war der Aufenthalt in Prag irgendwie anders. Alles war sehr hektisch. Das Haus war auch wesentlich voller als bei meinem ersten Besuch. Aber nach zwei Tagen hatte ich meine Reisepapiere nach Berlin und verließ Prag wieder. Was würde mich erwarten? Vor allem aber fragte ich mich, ob meine Eltern wohl wussten, wann und wo ich ankommen würde. Mein ganzes Gepäck war jetzt bei mir im Abteil. Koffer, Bettsack, Handgepäck. Wenn mich keiner abholt, was mache ich dann?

Aber meine Sorgen waren ganz unbegründet. Sie warteten schon auf dem Bahnsteig und alles klappte bestens. Nun erfuhr ich auch den Grund meiner plötzlichen Rückreise. Meine Eltern wollten, dass ich im nächsten Frühjahr konfirmiert werden sollte. Wobei, vermutlich war es nur meiner Mutter wirklich wichtig, sie war die religiöse von den beiden. Jedenfalls hatte sie es irgendwie durchgesetzt und organisiert, dass ihre Tochter aus dem entlegenen (und relativ sicheren) KLV-Lager zurückkommt, um das Glaubensbekenntnis abzulegen. Meine Schwester Eva und ich rätselten später noch oft darüber, warum ihr das so wichtig war, aber sie hat nie darüber geredet.

Da Kinder über zehn Jahren nicht in Berlin bleiben durften, würde ich wieder nach Weimar gehen, zu Onkel Martin und Tante Annemarie. Normalerweise gehen der Konfirmation zwei Jahre Unterricht voraus. Aber jetzt im Krieg reichten auch sechs Monate, für diese Zeit würde ich in Weimar bleiben und dort natürlich auch zur Schule gehen.

Fünf Jugendliche, zwei Mädchen und drei Jungen in Winterkleidung auf den Stufen vor einer großen Hauseingangstür. Sie schauen sehr ernst in die Kamera.
Meine Mitschüler aus dem Konfirmandenunterricht

Ich habe an diese Zeit kaum Erinnerungen, aber ich weiß noch, dass mich der Deutschunterricht verblüffte. Weimar ist ja die Goethestadt. Insofern wurde im Unterricht sehr viel Wert auf Gedichte gelegt. Das Auswendiglernen von Gedichten war mir nicht neu, das kannte ich. Aber hier war es scheinbar auch gefordert, dass sie besonders schwungvoll vorgetragen wurden. Ich konnte nur staunen als ich erlebte, mit welchem Ausdruck und Pathos meine Mitschülerinnen ihre Texte deklamierten. Es kam mir vor, als wäre ich in einer Schauspielklasse. Und es schüchterte mich kolossal ein. Das konnte ich nicht. Aber meine Lehrerin hatte Verständnis für mich. Als ich ihr erklärte, dass ich da nicht mithalten konnte, vor den anderen aber auch nichts herunterleiern wollte, bekam ich die Erlaubnis, die geforderten Gedichte im Unterricht aufzuschreiben. Ihr ginge es nur darum, sagte sie, dass ich sie gelernt hätte.

Eine blonde junge Frau sitzt zwischen einem Mann und einer Frau, ein junges Mädchen drückt sich von rechts an die Frau. Sie sitzen alle eng aneinander gedrückt an einem Tisch, die Arme miteinander verschränkt. Die junge Frau trägt eine hoch geschlossene, kurzärmelige dunkle Bluse und schaut selbstbewusst in die Kamera.
Mit meinen Eltern und meiner Schwester nach der Konfirmation.

Sehr gut erinnere ich mich aber daran, dass ich bei meinem Cousin Peter eine ganz neue Art von Literatur kennenlernte. Peter war etwas jünger als ich, aber genau wie ich eine Leseratte. Er lebte mit seinen Eltern, Onkel Kurt und Tante Käthe und seinen beiden Schwestern Christa und Anke in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Ich ging ihn oft besuchen und wir saßen dann, das Bild habe ich noch genau vor Augen, gemeinsam unter dem großen Küchentisch und lasen. Die Tischdecke hing weit hinunter und schirmte uns vor der Unruhe in der Wohnung ab. Denn es waren meist alle zu Hause. Es war nämlich meine Tante, die die Familie ernährte. Ihr war deshalb das Wohnzimmer überlassen, das war ihr Arbeitszimmer in dem sie als Schneiderin arbeitete. Dort empfing sie auch die Kunden, die ihr etwas zum Ändern oder Reparieren brachten oder etwas abholten. Mein Onkel hätte auch gern gearbeitet, wurde als bekennender Kommunist aber nirgendwo eingestellt.

Die Höhle unter dem Küchentisch war also unser Rückzugsraum, in dem wir in Ruhe lesen konnten. Und was es hier alles zu lesen gab! Hier standen völlig andere Bücher im Schrank als bei meinen Eltern. Ich entdeckte Jack London, Mark Twain, Robert Louis Stevenson, Zane Grey und viele andere. Lauter Autoren von denen ich noch nie gehört hatte. Im Haus von Onkel Martin und Tante Annemarie hatte ich zwar ein eigenes Zimmer, aber in meiner Erinnerung sehe ich mich immer mit Peter unter dem Küchentisch liegen und all die Bücher lesen, die er mir empfahl. Es war eine aufregende Zeit.

Eine Jugendliche steht zwischen einem jungen Mädchen und einer älteren Frau. Alle tragen Winterkleidung. Sie hat den Arm um die Schultern des Mädchens gelegt. Sie stehen auf einer abgetretenen Wiese, vor einem Zaun, im Hintergrund sind Bäume die kein Laub mehr tragen, der Himmel ist grau und nebelverhangen.
Meine kleine Schwester und meine Tante Erna besuchen mich zur Konfirmation in Weimar.

An den Konfirmationsunterricht, wegen dem ich ja vor allen in Weimar war, habe ich überhaupt keine Erinnerung, nur ein wenig an die Feier. Das war im März 1944, als ich schließlich konfirmiert wurde. Dazu kamen meine Eltern mit meiner Schwester und meiner Tante Erna aus Berlin und es gab ein zur Feier erklärtes Familientreffen. In Weimar wohnten ja auch noch meine Oma und zwei andere Tanten und alle freuten sich, sich in so großer Runde zu treffen. Man wusste ja nie, wann man sich wiedersehen würde.

Ein Unterschied zu meinem ersten Aufenthalt 1940 war auch, dass es mittlerweile oft Fliegeralarm in Weimar gab. Obwohl die Stadt praktisch immer nur überflogen wurde, gab es natürlich trotzdem Alarm und man musste auch immer die Schutzräume aufsuchen. Und gelegentlich passierte es tatsächlich, dass einzelne Maschinen doch Bomben abwarfen.

Nach der Konfirmation ging ich noch für einige Zeit in Weimar zur Schule, aber es war klar, dass ich bald in ein KLV-Lager fahren sollte. Und zwar in dasjenige, in das meine Berliner Schule verlagert worden war. Das war in Kiritein, auch wieder in der Tschecheslowakei, etwa 15 Kilometer nordöstlich von Brünn. Nur der genaue Termin stand noch nicht fest.