DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Nach Prag und weiter

Mai 1942

Die Fahrt ging zuerst nach Prag. Dort würden wir übernachten, weil der Zug, der uns weiterbringen würde, erst am nächsten Tag ging. Berlin – Prag, das war eine glatte Fahrt. Ganz problemlos. Vom Bahnhof gingen wir zu unserem Quartier, einem Haus des YMCA. Zum Glück kümmerte man sich um unser Gepäck, wir trugen nur unser Handgepäck. Das Haus war nahe dem Bahnhof gelegen, ein großes, vierstöckiges Gebäude, das als Durchgangslager genutzt wurde. Dort war sehr viel los, es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Es waren auch viele Soldaten dort untergebracht. Aber auf unsere Ankunft war man vorbereitet. Es gab große Schlafsäle, aber wir kamen zu jeweils sechs Mädchen in einen Raum. Und im Esssaal waren für uns Tische reserviert. So umsorgt zu werden, da fühlten wir uns schon gleich besser. Obwohl viele der Kinder doch starkes Heimweh hatten. Die meisten waren das erste Mal von ihren Eltern und Geschwistern getrennt. Ich war ja immerhin schon mal allein in Weimar gewesen. Das war zwar auch eine Trennung, aber ich hatte dort ja meine Oma, Onkel, Tanten, Cousin und Cousinen. Mit der Fahrt jetzt ließ sich das in keiner Weise vergleichen. Und deshalb litt auch ich unter Heimweh.

Ich glaube, dass wir bei dieser Gelegenheit das Haus bis zur Abreise gar nicht verlassen haben. Unsere Lehrerinnen und der Direktor, die jetzt ja die Verantwortung für uns trugen, waren sehr aufgeregt und ließen uns keinen Moment aus den Augen. Im Jahr 1944 war ich nochmal in Prag, hatte mehr Zeit und konnte mir die Stadt ansehen. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht.

Unser eigentliches Ziel war Luhatschowitz. Ein kleiner Ort im Landesteil Mähren. Über dreihundert Kilometer von Prag entfernt, schon fast an der Grenze zur (heutigen) Slowakei. Es ist ein Kurort, ganz idyllisch im Wald gelegen, auf einem Ausläufer der Hohen Tatra. Der Ort besteht fast nur aus Kurhotels verschiedener Größe, einem sehr schönen Kurpark mit Trinkbrunnen und einem Kurmittelhaus mit großer Liegehalle. Auch ein altes Schloss gibt es. Jetzt gab es aber keinen Kurbetrieb, weil die Hotels alle beschlagnahmt und mit Kindern aus gefährdeten Gebieten belegt waren. Die meisten Kinder kamen aus dem Ruhrgebiet. Zwei Häuser, allerdings die größten, mit über hundert Plätzen, waren nur mit Jungen belegt. In allen anderen Häusern waren Mädchen. Von den etwa zwanzig Hotels waren nur vier mit Berlinern besetzt. Wir waren also arg in der Minderzahl.

An die Fahrt nach Luhatschowitz habe ich keine Erinnerung. Aber ich weiß noch, dass wir sehr spät abends ankamen. Es war schon dunkel und wir waren alle hundemüde. Unser Haus war das Hotel „Smetana“. Es war ein schönes Haus, am Ende des Kurparks. Unser Zimmer war gleich rechts im Parterre, das erste Zimmer nach hinten. Wenn wir aus dem Fenster sahen, hatten wir ein Stückchen Wiese vor uns und dann gleich den Wald. Für ein Großstadtkind ein ungewohnter Anblick.

In unserem Zimmer standen vier Etagenbetten, wir wohnten also zu acht dort. Wir sechs Mädchen aus meiner Klasse und noch zwei andere, auch aus einer Berliner Schule, die in der Klasse zu uns passten. Im Haus wohnten auch zwei Lehrerinnen aus unserer Schule und mehrere Führerinnen des BDM. Der BDM - der Bund Deutscher Mädels - organisierte den Betrieb sämtlicher Häuser. Aber da komme ich später noch drauf.

Jede der BDM-Frauen war für eine Gruppe Kinder zuständig. Für die acht Mädchen meines Zimmers war das Helga, eine junge Frau Anfang 20. Aber weil sie sehr rotblonde Haare hatte, nannten wir sie Moritz. Moritz war unsere Ansprechpartnerin für alles, was nicht mit der Schule zusammenhing. Sie ging mit uns wandern, spazieren und ins Kino. Sie übte Lieder mit uns ein und Volkstänze, organisierte Aufführungen usw.. Sie war in jeder Hinsicht für uns verantwortlich. Selbst unterstand sie der Lagerleitung. Und es gab natürlich auch BDM-Führerinnen, die für größere Gruppen, wie Klassenverbände oder Häuser zuständig waren. Die Schule, also unsere Lehrerinnen und der Direktor hatten erst an zweiter Stelle das Sagen. Und nur bei Dingen, die den Unterricht betrafen.
In meiner Erinnerung nannten wir Moritz immer unsere Scharführerin, aber das macht eigentlich keinen Sinn, weil eine Schar eine viel größere Gruppe ist - das war alles genau geordnet. Wahrscheinlich irre ich mich, ich weiß es einfach nicht mehr.

Natürlich mussten wir uns alle erst an den neuen, ungewohnten Alltag gewöhnen. Acht Mädchen, die sich gar nicht oder doch nur sehr begrenzt kannten, schliefen nun in einem Raum. Und der war ziemlich eng. Als das Haus noch als Hotel genutzt wurde, war unser Zimmer sicher nur ein Doppelzimmer gewesen. Außer den schon erwähnten vier Etagenbetten hatten wir noch einen Tisch im Zimmer, einen Schrank, in den unsere Schulsachen kamen und acht Stühle. Für unsere Kleidung hatten wir jede auf dem Korridor einen Spind, der auch abschließbar war. Doch den Schlüssel dazu trugen wir nicht bei uns. Der lag im großen Schrank im Zimmer. Und Schrank und Zimmer waren immer offen.

Am nächsten Tag wurden wir gleich mit dem Tagesablauf vertraut gemacht, der ab sofort unseren Alltag bestimmen würde. Hier jetzt erstmal der Tagesbeginn: Wir wurden morgens um 6.15 Uhr von Moritz geweckt. Dann hieß es, schnell aus den Betten, damit wir möglichst als erste im Waschraum waren. Der Waschraum hatte nur fünf oder sechs Wasserhähne und es kamen vierundzwanzig Mädchen. Da gab es natürlich Gedränge. Waren wir wieder im Zimmer, hieß es „Betten bauen“. Moritz hatte uns ganz genau erklärt und gezeigt, wie man die Decken einschlägt und glattzieht. Aber das war jeden Morgen eine Tortur. Ich war ja nicht so groß, dass ich bequem oben meine Decke glatt ziehen konnte. Das Mädchen, das unter mir schlief, wollte auch ihr Bett machen und war dagegen, dass ich auf ihr Bett trat. Da gab es mitunter schon Streit und es dauerte eine Weile, bis wir das so organisiert hatten, dass es gut klappte. Denn die Betten mussten schon in Ordnung sein, es gab nämlich manchmal Bettenappell. Nicht jeden Tag, aber immer unvorbereitet. Waren die Betten sehr zu beanstanden, bekam der Einzelne, manchmal aber auch das ganze Zimmer, einen Verweis, Ausgangsverbot oder wurde zu einer Arbeit verdonnert, die gerade anstand und die keiner freiwillig machen wollte.

Um 7.00 Uhr mussten dann alle Mädchen, klassenweise, vor ihrem Haus in Dreierreihen angetreten sein. Eine der Scharführerinnen hielt eine kleine Ansprache, es wurde ein Lied gesungen und die Fahne am Mast gehisst. Dann marschierten wir geschlossen zum Frühstück. Am Abend, nach dem Abendbrot, wurde die Fahne dann mit dem gleichen Zeremoniell wieder eingeholt. Es war natürlich die Reichsflagge mit dem Hakenkreuz.