DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Abreise aus Gumpolds

April 1945

Was sich in dem Brief vom 4.4.45 mit der Ankündigung der Abreise als große Aufregung darstellte, wurde dann wirklich sehr aufregend. Wobei aufregend das falsche Wort ist. Bedrückend oder beängstigend trifft es besser. Aber eins nach dem anderen.

Als wir am Bahnhof ankamen, herrschte da schon ein riesiges Gedränge. Es war nicht nur unsere Schule dort, sondern auch noch die beiden Jungenschulen aus Charlottenburg. Und dazu das übliche Gedränge eines Bahnhofs, wobei, ich glaube nicht, dass es viele normale Reisende gab. In meiner Erinnerung scheinen es vor allem Flüchtlinge zu sein. Die beiden Gruppen unterscheiden sich sehr deutlich voneinander. Ein Reisender ist vielleicht in Eile, um seinen Zug noch zu erwischen. Flüchtlinge sind verzweifelt.

Wir erfuhren, dass für uns ein extra Zug bereit gestellt wird. Was uns nicht weiter verwunderte, denn wir waren immer, wenn wir als große Gruppe unterwegs waren, in einem Sonderzug gefahren. Jetzt standen ja auch wieder 3 Schulen auf dem Bahnsteig. Der Zug käme sicher schon mit anderen Kindern an oder würde an anderen Stationen noch weitere aufnehmen. Wie erstaunt waren wir daher, als vor uns eine Lokomotive mit 3 Güterwagen hielt. Jede Schule wurden aufgefordert, schnellstens einen Waggon zu besteigen. Das war schon ein sonderbares Gefühl, da hinein verladen zu werden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Auf die rechte Seite kam unser Gepäck. Jedenfalls ein Teil davon. Koffer, die nicht zu groß waren, Pakete, unser Handgepäck. Das große Gepäck würde gesondert nachkommen – wurde uns gesagt. Woraus dann aber nichts mehr wurde, es kam nie. Auf der linken Seite lag Stroh, und da kamen wir hinein. Das Beladen/Einsteigen musste sehr schnell gehen, denn schon nach wenigen Minten rollten wir aus dem Bahnhof. Allerdings nur auf ein Nebengleis. Dort standen wir dann ziemlich lange. Und da kroch auch zum ersten Mal Angst in uns hoch. Hatten wir vorher noch gelacht und es uns ein bisschen im Stroh gemütlich gemacht – es war ja sehr eng – wurde das Gefühl, abgestellt und vergessen zu sein, irgendwann doch beängstigend. Wir waren zu diesem Zeitpunkt übrigens 56 Kinder, 6 Lehrerinnen und unser Direktor.

Aber irgendwann, es erschien uns wie eine Ewigkeit, setzten sich unsere Wagen in Bewegung. Es ging aber noch nicht direkt auf die Reise, sondern wir wurden noch mehrmals auf andere Gleise geschoben. Aber jede Bewegung war besser, als ruhig auf einem Gleis außerhalb des Bahnhofs zu stehen. Es bedeutete, dass wir nicht vergessen waren. So ruckelten die Wagen auch öfters ziemlich heftig, woraus wir schlossen, dass wir an einen anderen Zug angehängt wurden. Und dann endlich, es waren bestimmt schon einige Stunden vergangen, setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Langsam fuhr er dann auch die ganze Zeit. Und er hielt oft auf freier Strecke. Wenn wir dann wieder durch einen Bahnhof fuhren und das Ortsschild lasen, merkten wir, dass wir nicht auf einem Umweg Richtung Prag fuhren, wie wir vermutet hatten, sondern dass wir eigentlich überhaupt nicht voran kamen.

Als der Zug wieder einmal in einem sehr kleinen Ort hielt, kam ein Offizier den Bahnsteig entlang und sah in jeden der drei Güterwagen. Von ihm erfuhren wir, dass wir an einen Lazarettzug angehängt worden waren. Und er erklärte uns auch, warum wir so oft halten mussten. Die Strecke war durch Bombenangriffe oftmals eingleisig und es hatten immer die Züge Vorfahrt, die in Richtung Front fuhren. Unser Zug ging ja in die entgegengesetzte Richtung, also mussten wir warten. Wie er es uns so erklärte, war es durchaus einleuchtend. Aber als er weiterging, fingen wir doch an zu grübeln. Wie nahe waren wir der Front wohl?