DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Post von daheim

Sommer 1942

So waren unsere Tage also von Beginn an durchorganisiert. Und obwohl so gut wie alles daran neu für uns war, gewöhnten wir uns erstaunlich schnell daran. Jedenfalls die meisten. Ich erinnere mich an einzelne, aber vor allem an ein Mädchen, die ständig dadurch auffiel, dass ihr irgendwas nicht passte. Und die das auch laut kundtat. Was eigentlich das Erstaunlichste daran war. Denn die meisten von uns waren folgsam und zurückhaltend. Das war das Verhalten, welches von Mädchen erwartet wurde, das für uns aber auch funktionierte.

Denn wenn ich so zurückdenke würde ich sagen, dass alles immer dann gut und reibungslos lief, wenn wir den Anweisungen Folge leisteten. Und das war nicht besonders schwer, denn das waren wir gewohnt. Gehorchen mussten wir in der Schule und gehorchen mussten wir zu Hause. So fügte ich mich also in den stetigen Fluss dieser durchstrukturierten Tage. Und die Mädchen um mich herum, in meinem Zimmer und in meiner Klasse, machten es genauso.

Es gab aber etwas das nicht vorhersehbar war und dem wir Tag für Tag erwartungsvoll entgegenfieberten: Gab es Post von daheim? Die Post wurde nach dem Mittagessen verteilt. Wenn wir nach dem Essen zum Haus Smetana zurück kamen, stand schon eine der Gruppenleiterinnen mit einem mehr oder weniger dicken Stapel Briefe in der Hand auf der Treppe in der großen Eingangshalle. Sie wartete bis alle da waren und verteilte dann die Post. Manchmal lag zu ihren Füßen auch noch ein Postsack, in dem waren dann Päckchen und Pakete. Aber die kamen natürlich selten, vor allem zu Geburtstagen oder zu Weihnachten.

Post zu bekommen war wunderbar. Jedenfalls meistens. Denn vergiss bitte nicht: Es war Krieg. Wir waren aus Berlin weggeschickt worden, weil die Stadt bombardiert wurde. Unsere Eltern, Geschwister, Freunde, Nachbarn - eigentlich alle die wir kannten, waren aber noch da. Wenn wir jetzt also Post von den Eltern bekamen, war schon der Umschlag eine gute Nachricht: sie lebten noch. Aber manchmal kündigte auch schon der Umschlag eine schlimme Nachricht an, wenn nämlich jemand plötzlich Post von Nachbarn oder entfernten Verwandten bekam. Das bedeutete dann meist, dass irgendein Unglück passiert war.

Manchmal aber genügte es auch schon, wenn ein Mädchen Post bekam, damit wir alle uns besser fühlten. Nämlich dann, wenn wir im Radio wieder mal von einem Bombenangriff auf Berlin gehört hatten. Dann waren wir tagelang in Sorge, ob unsere Familien wohlauf sind. Wenn dann jemand einen Brief bekam, der in der Nähe wohnte - alle aus meiner Schule kamen ja aus Reinickendorf und alle im Haus aus Berlin - dann stand da auf jeden Fall etwas darüber drin, welche Teile der Stadt von dem Angriff betroffen gewesen waren. Und das konnte uns dann fürs Erste beruhigen. Aber richtig beruhigt waren wir natürlich erst, wenn wir selbst Post bekamen. Bis zum nächsten Bombardement von dem wir hörten. Dann hieß es wieder auf Post warten. Ein schrecklicher Kreislauf.

Aber der Postkreislauf an sich war ja etwas Schönes. Und wir taten unser Bestes ihn in Gang zu halten. Denn uns war völlig klar: Wenn man Briefe bekommen will, muss man auch Briefe schreiben. Und so schrieben wir alle Woche für Woche Briefe. Ich schrieb eigentlich immer nur an meine Eltern, meist allerdings entweder an meine Mutter oder meinen Vater. Selten an beide. Warum das so war, kann ich heute nicht mehr sagen. Einige wenige Male habe ich auch an meine Schwester Eva geschrieben. Aber sie war ja noch sehr klein, da gab es nicht so viel zu erzählen.

Du fragst dich jetzt vielleicht, warum wir nicht einfach zu Hause angerufen haben, wenn wir uns Sorgen machten. Es gab doch schließlich Telefone. Nun ja, die gab es. Aber nicht für mich oder für Kinder überhaupt. Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Telefongespräch geführt. Selbst den Hörer hatte ich noch nie in der Hand gehalten. Keine von uns wäre auch nur auf die Idee gekommen, irgendwo anzurufen. Nicht mal in der gleichen Stadt, jetzt waren wir aber in einem fremden Land. Undenkbar!

Dazu kam, dass öffentliche Telefonzellen nicht sehr häufig waren. In Berlin gab es schon einige, glaube ich zumindest. In Luhatschowitz aber sicher nicht. Und wie gesagt, selbst wenn an jeder Ecke eine gestanden hätte, es wäre für uns bedeutungslos gewesen.

Also schrieben wir Briefe. Ganz regelmäßig. Dafür waren jede Woche mehrere Stunden fest eingeplant. Und gut, dass ich sie geschrieben habe! Denn dadurch kann ich jetzt nochmal die Nachrichten von mir als jungem Mädchen lesen (und sie am Ende auch hier mit abdrucken). Was besonders erstaunlich ist: Die Briefe kamen fast immer an. Ich kann mich natürlich nicht mehr genau daran erinnern, aber mir ist nicht bewusst, dass verlorengegangene Briefe ein Thema gewesen wären.