DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Moritz übernimmt

Sommer 1942

War der Unterricht beendet, gab es direkt Mittagessen. Das war übrigens ganz anders als daheim, aber sehr lecker. Und vor allem sehr reichlich. Es gab eigentlich immer irgendwelche Knödel oder Buchteln. Und wir konnten auch hier so viel essen, wie wir wollten. Nach dem Essen gingen wir zum Haus zurück. Natürlich alle gemeinsam und in Dreierreihen. Denn jetzt hieß es Hausaufgaben machen. In unserem Haus Smetana gab es einen großen Aufenthaltsraum, in dem versammelten wir uns nun und machten alle - aber jeder für sich - unsere Schularbeiten. Was wir dort für Aufgaben bearbeiteten kann ich wirklich nicht mehr sagen, aber ich weiß noch genau, dass wir immer sehr viel auswendig lernen mussten. In Deutsch mussten wir Gedichte aufsagen können, lange Gedichte. Die Glocke rauf und runter. In Geschichte mussten wichtige Jahreszahlen sitzen. In Erdkunde lernten wir die Gipfel der verschiedenen Gebirge und so weiter. Aber das war für uns nichts Neues. In Berlin war es auch nicht anders gewesen.

Mit den Hausaufgaben mussten wir bis 15 Uhr fertig sein, denn dann kam Moritz. Und die hatte für uns jetzt einen Plan der bis zum Abend reichte. Es war ganz klar, dass alles was die Schule betraf, jetzt abgeschlossen sein musste. Die Lehrer hatten glaube ich nicht viel zu sagen. Sie waren wirklich nur für den Schulbetrieb da. Das Lagerleben bestimmte der Bund. Also der BDM. Und der BDM, das war für uns Moritz.

In den ersten Wochen und Monaten in Luhatschowitz hatten wir kaum mal eine Stunde so ganz zur freien Verfügung, später schon. Aber wir mussten in dieser ersten Zeit auch viel Neues lernen, vor allem Marschieren. Das war richtiger Drill. Auf Kommandos reagieren. Vor allem aber: auf Kommando stillstehen. Natürlich ist in der ersten Zeit immer mal jemand nachgeklappert. Aber als wir wussten, worauf es ankam, da war unsere Klasse eigentlich recht gut. Und es hat auch Spaß gemacht. Moritz hat in der ersten Zeit sehr viel mit uns geübt. Später nur noch, wenn große Aufmärsche bevorstanden. Und wir lernten eine Menge neuer Lieder. Lieder, die zum Teil auch beim Marschieren gesungen wurden. Einige hatten wirklich viele und lange Strophen. Und der Text musste sitzen, da war mit Moritz nicht zu spaßen. Wenn sich jemand verhaspelte, wurde von vorne angefangen. Wieder und wieder.

Rund ein Dutzend junger Mädchen, von hinten aufgenommen, in engen Reihen stehend. Alle tragen knielange Röcke und kurze, derbe Jacken. Alle haben ihre Haare zu zwei Zöpfen gebunden. Neben ihnen stehen einige ältere Mädchen.
Eine Gruppe junger BDM-Mädchen in den beschriebenen kräftigen Jacken, wahrscheinlich mit ihren Scharführerinnen. Das sind nicht wir, aber wahrscheinlich haben wir sehr ähnlich ausgesehen.

Quelle: Wikimedia (Fotograf: Annemarie Schwarzenbach (1908–1942)) bzw. Schweizerische Nationalbibliothek, SLA-Schwarzenbach-A-5-13/037 - Lizenz: Public Domain

Wenn das Wetter es zuließ, waren wir eigentlich immer draußen. Wenn wir nicht auf einem Platz drillmäßig übten, waren wir meist im Wald unterwegs. Und dort hatten wir dann mit der Zeit auch unsere Plätze, an denen wir uns niederließen. Manchmal war da schon eine andere Gruppe, schließlich war der ganze Ort voller Kinder, dann gingen wir weiter und suchten uns eine andere Stelle. Die Gruppen blieben eigentlich immer für sich.

Wenn wir dann so saßen, wurde irgendetwas gemeinsam besprochen. Meist ging es darum besser zu werden. Zumindest in der Anfangszeit. Mit 'besser werden' meine ich: besser in unserem Erscheinungsbild als Gruppe. Zum Beispiel, wo hapert es noch beim Marschieren? So haben wir lange daran gearbeitet, akkurat in der Kolonne abzubiegen. Das ist nicht einfach. Die, die innen in der Kurve sind, treten fast nur auf der Stelle, während die außen normal marschieren. Und die dazwischen müssen alle ihre Schrittlänge anpassen, aber alles muss im Gleichtakt passieren. Das hat eine Weile gedauert. Aber wir haben uns eigentlich bei allem Gedanken darum gemacht, ein möglichst vorbildliches Erscheinungsbild zu bieten. Beim Marschieren wird die Gruppe zwar immer nach der Größe sortiert. Aber abgesehen davon konnten wir überlegen, wer an herausgehobener Position läuft und wen wir ein bisschen verstecken. Wir übten auch oft Spalier stehen, da kommen natürlich die Großen, Gutaussehenden nach vorne. Solche Sachen beschäftigten uns.

Wenn ich so darüber nachdenke, dann ging es eigentlich vor allem darum, dass wir lernten als Gruppe zu funktionieren. Auf Kommando. Und zwar möglichst gut. Und dabei auch noch möglichst gut auszusehen. Das Marschieren übte Moritz meist nur mit uns acht Mädchen (wobei, unsere Gruppe bestand zwar aus acht Mädchen, marschiert sind wir aber nur zu siebt, wegen Lotti - aber da komme ich später drauf), aber immer mal wieder übten wir auch mit der ganzen Klasse. Schließlich mussten wir bei Gelegenheiten in großer Zahl marschieren. Das ließ sich schlecht zu acht üben. Aber wenn es dann Aufmärsche gab, traten wir nicht in Schulklassen an, sondern in Häusern. Bei den Häusern war wiederum ganz klar, woher ihre Bewohner stammten. Ob sie aus Berlin oder aus dem Rheinland kamen. Und manchmal wurden wir in weiter entfernte Orte gefahren, zum Beispiel nach Brünn. Da kam dann irgendeine wichtige Persönlichkeit und die Straßen sollten voller winkender Menschen sein.

Auf einer Wiese steht eine große Anzahl Mädchen, in Reihen angetreten zum Appell. Sie tragen alle lange, dunkle Röcke und kurze Jacken. Im Hintergrund, am weiter entfernten Rand der Wiese, steht eine einzelne Baumreihe.
Auch das sind nicht wir, aber etwa so sah es bei uns auch aus, wenn das ganze Haus zum Appell antrat oder wenn wir mit anderen Gruppen zusammen übten.

Quelle: Wikimedia bzw. Bundesarchiv, Bild 133-067 - Lizenz: Share Alike 3.0 Germany

Dadurch ergaben sich eine ganze Menge Konkurrenzsituationen. Erstmal zu den anderen Gruppen. Dann zu den anderen Klassen. Da mussten wir natürlich unsere Klassenehre verteidigen. Aber es gab ja auch noch die anderen Häuser. Neben denen wollten wir natürlich glänzen. Und dann war da noch die Konkurrenz Berliner gegen Rheinländer. Von denen wollten wir uns ganz gewiss nichts vormachen lassen. Und manchmal fühlten wir uns sogar alle als Luhatschowitzer und mussten 'unserem Ort' Ehre machen. Insofern gab es immer Anlass, an sich zu arbeiten. Gar nicht mal, um als besonders gut aufzufallen. Viel eher, um nicht aufzufallen. Weil man nämlich etwas weniger gut machte als die anderen.
Beim Marschieren, haben wir gelernt, soll alles aussehen wie aus einem Guss. All die vielen Menschen sollen sich bewegen wie ein Organismus. Wenn an einer Stelle etwas auch nur ein wenig ruckelt, zerstört das sofort das Gesamtbild. Und dafür wollten wir ganz gewiss nicht verantwortlich sein.

Aber vor allem wollten wir Moritz nicht blamieren. Wir waren ihre Truppe und alles was wir taten, würde auf sie zurückfallen. Gutes wie Schlechtes. Und wir mochten Moritz. Sie war immer für uns da, zu ihr konnten wir mit all unseren Sorgen gehen. Und wir konnten nur zu ihr gehen. Sonst gab es niemanden.

Das hört sich jetzt vielleicht so an, als hätten wir immer nur marschieren und strammstehen geübt, so war es nicht. Moritz machte mit uns viele Ausflüge, sie ging mit uns schwimmen und manchmal waren wir (glaube ich) sogar im Kino. Außerdem übten wir Sketche ein und Spiele. Die wurden aufgeführt, wenn hohe Persönlichkeiten unseren Ort besuchten. Langeweile gab es jedenfalls nicht. Aber freie Zeit, so zu unserer eigenen Verfügung, die gab es auch nicht. Oder kaum. Wenn wirklich mal eine Stunde nicht von Moritz verplant war, dann war es Zeit zum Briefe schreiben oder Putz- und Flickstunde. Sauber geputzte Schuhe waren ein absolutes 'Muss'. Und mit losen oder abgerissenen Knöpfen sollte man sich besser auch nicht erwischen lassen. Deshalb waren dafür im Wochenplan feste Zeiten angesetzt.

Wir waren mit Moritz von 15 Uhr bis zum Abend zusammen. Gegen 18 Uhr (vielleicht auch 19 Uhr, das weiß ich nicht mehr so genau) gab es Abendessen, aber danach ging es weiter. Vor allem im Sommer sind wir dann meist noch mal in den Wald und haben gesungen. Es konnte aber genauso sein, dass wir im Haus blieben und Dinge erledigten, mit denen wir nicht fertig geworden waren: Hausaufgaben, Flicken und Briefe schreiben vor allem. Aber in jedem Fall blieben wir als Gruppe zusammen.

Am Sonntag hatten wir keinen Unterricht. Aber das bedeutete nicht, dass wir insgesamt frei hatten. Im Gegenteil. Jetzt übernahm Moritz uns schon nach dem Frühstück. Aber das war uns recht. Ich erinnere mich jedenfalls nicht daran, dass wir darunter litten oder uns beklagten. Später lockerte sich das dann auch und wir konnten manchmal für einige Stunden etwas allein unternehmen. Aber in der ersten Zeit waren wir ständig unter ihrer Aufsicht. Wenn ich so versuche mich zu erinnern, frage ich mich, ob ich Moritz eigentlich jemals ohne Uniform gesehen habe. Nur beim Schwimmen, glaube ich.