Zweifel kommen auf
Ende Mai 1945
Die Bauern haben eigentlich nie besonders lange mit uns gesprochen. Dazu hatten sie zu viel Arbeit und es kamen ja Tag für Tag fremde Menschen auf ihren Hof, oft viele auf einmal. Aber hin und wieder fragte uns doch mal ein Bauer nach dem Woher und Wohin. Einer hat sich mal den ganzen Abend mit uns unterhalten. Mit dem Ergebnis, dass er uns schließlich anbot, bei ihm auf dem Hof zu bleiben und zu arbeiten. Nach Berlin zu gehen, was ja unser eigentliches Ziel war, das hielt er für keine gute Idee. Er erzählte viel über den Endkampf um Berlin, alles sei zerstört und unsere Angehörigen sicher gar nicht mehr am Leben. Er meinte es bestimmt gut mit uns, aber wir wollten trotzdem nicht bleiben.
Am nächsten Tag allerdings, als wir wieder unterwegs waren, kreisten unsere Gedanken immer nur um dieses lange Gespräch vom letzten Abend. War es wirklich so schlimm gewesen? Nach dem was er uns erzählt hatte, mussten wir davon ausgehen, dass die ganze Stadt in Trümmern lag. Wir konnten nicht einschätzen, ob das stimmte und konnten uns auch nirgendwo informieren. Es gab ja keine Zeitung und kein Radio. Diese Ungewissheit war schrecklich und die Bilder die wir uns vorstellten, waren noch schrecklicher.
Was sollten wir machen, wenn wir unsere Eltern nicht mehr finden konnten? Was würde dann aus uns werden? Andererseits war uns auf unserem bisherigen Weg nicht besonders viel Zerstörung begegnet. Aber mit der Hauptstadt war es natürlich etwas anderes. Wir wussten nicht, was wir denken sollten.
An diesem Tag haben wir keine große Strecke bewältigt. Immer wieder haben wir Rast gemacht und geredet. Sicher, jede hatte sich im Stillen schon solche Sorgen gemacht. Aber nun waren sie laut ausgesprochen worden und wir redeten den ganzen Tag darüber. Aber schließlich beschlossen wir, dass wir den begonnenen Weg erstmal zu Ende gehen sollten. Unser momentanes Ziel war Weimar, bzw. Erfurt. Berlin kam erst später, darüber würden wir uns jetzt einfach keine Gedanken machen.
Übrigens merkten wir sehr bald, dass unser Direktor gut daran getan hatte, uns ein offizielles Entlassungsschreiben mitzugeben. Überall trafen wir auf Militärposten, bei denen wir uns ausweisen mussten. Vor jeder Stadt und jedem größeren Ort. Aber wir hatten ja den Passierschein des amerikanischen Stadtkommandanten in Kemnath. Außerdem unseren Entlassungsschein, mit Unterschrift und Stempel. Es war ganz sonderbar: Stempel beeindruckten immer, wir wurden stets ohne weiteres durchgelassen. Aber vermutlich wirkten wir Mädchen auch harmlos und unverdächtig. Oft fragten uns die amerikanischen Soldaten auch, wo wir herkämen. Ich hatte mir in Kemnath vor dem Abmarsch aus meinem Atlas eine Deutschlandkarte herausgerissen (mit sehr schlechtem Gewissen). Sie sollte eigentlich der Orientierung unterwegs dienen. Nun stellte sich heraus, dass sie uns vor allem dabei half, den Soldaten unseren Weg zu zeigen.