Nächtlicher Besuch
Ende April 1945
Zum Glück war ich nicht allein am Bach. Wir waren acht, vielleicht auch zehn Mädchen. Alle starr vor Schreck. Die Panzerkolonne nahm kein Ende, eine nach der anderen dröhnten diese Monstermaschinen direkt über unseren Köpfen die Straße entlang. Es war eine furchtbar beunruhigende Situation. Der Bach war etwa einen Meter unterhalb des Straßenniveaus und die Straße war nicht breit. Würde ein Panzer auch nur einen kleinen Schlenker machen, würde er unweigerlich von der Straße abkommen und auf uns stürzen. Aber diese Gedanken hatte ich erst, als ich abends wieder im Stroh lag und zu schlafen versuchte. Als wir dort wie versteinert hockten, habe ich glaube ich überhaupt nichts gedacht.
Es dauerte mehr als eine Stunde, bis der letzte Panzer vorbei war. Aber selbst dann konnten wir nicht sofort aufspringen und ins Haus laufen. Vor Schreck waren wir wie gelähmt und vom langen Hocken ganz steif. Aber irgendwann löste sich die Spannung und dann nichts wie hinüber ins Haus. Dort wurden wir schon von den anderen Mädchen und unseren Lehrerinnen sehnsüchtig erwartet. Obwohl es erst früher Nachmittag war, sind wir an diesem Tage nicht mehr aus dem Haus gegangen. Und wir stellten uns endlos die Frage: Was wird jetzt mit uns? Wie geht es weiter? Aber natürlich konnten wir sie nicht beantworten, wir wussten gar nichts. Auch unsere Lehrerinnen und unser Direktor konnten uns dabei nicht helfen. Aber sie taten ihr Bestes, uns zu beruhigen. Aber in all dieser Unruhe und Aufregung waren wir immerhin froh, dass es die Amerikaner und nicht die Russen waren, die an uns vorbei gefahren waren. Angst hatten wir trotzdem. An diesem Tage sind wir dann sehr zeitig schlafen gegangen.
Mitten in der Nacht, wir hatten schon geschlafen und draußen war es stockdunkel, als auf der Treppe plöztlich schwere Schritte polterten. Die Tür flog auf, ein sehr greller Scheinwerfer beleuchtete unseren Raum und drei schwerbewaffnete Soldaten standen in der Tür, die MP im Anschlag. Offensichtlich wollten sie eigentlich den Raum betreten, nur, es ging nicht. Denn der Boden war ja bis zur Tür mit schlafenden Mädchen bedeckt. Vermutlich war es auch für diese Soldaten eine Überraschung. Sie suchen nach Soldaten, die sich versteckten und blicken in die verschreckten Augen von 56 Kindern. Trotzdem ist einer von ihnen auf dem schmalen Gang in der Mitte durch den ganzen Raum gegangen und hat alle angeleuchtet. Sie wollten offensichtlich sicher sein, dass sich nicht vielleicht doch noch irgendwo unter uns Soldaten verbargen.
Nun, es waren keine da, er kam zurück und besprach sich mit seinen Kameraden. Inzwischen hatten sich unsere Lehrerinnen auch aus ihrer Erstarrung gelöst und sie versuchten nun den Soldaten zu erklären, wer wir sind (verlagerte Schule) und wo wir herkommen. Aber irgendwie verstanden die Soldaten nicht, um was es ging. Oder sie wollten sich nicht damit befassen. Denn ihre Aufgabe war es, den Ort nach deutschen Soldaten abzusuchen. Kinder fielen nicht in ihr Aufgabengebiet. Sie zogen ab und wir versuchten, wieder einzuschlafen.
Wir hatten uns gerade wieder beruhigt, einige waren sicher auch schon wieder eingeschlafen, als es erneut polterte. Diesmal suchten sie nicht erst unten alles ab sondern kamen ganz gezielt zu unserer Tür. Wieder wurden wir angeleuchtet, wieder ging ein Soldat durch den Raum. Aber jetzt wurde schon ein bisschen mehr geredet. Mit welchem Erfolg, weiß ich nicht mehr. Aber sie machten irgendwie beruhigende Handbewegungen. Dann waren sie wieder weg.
Aber wir hatten noch keine Ruhe. In dieser Nacht wurden wir insgesamt fünf Mal aufgesucht. Vermutlich haben sie in der Einsatzstelle, von wo die Soldaten losgeschickt wurden, die Geschichte von einem Raum voller Kinder nicht geglaubt. Oder wollten sich das alle mal ansehen? Zum Schluss kam ein Offizier, der sofort mit unseren Lehrerinnen sprach und beruhigend auf sie einredete. Jedenfalls wirkte es so. Verstanden haben wir nämlich nichts. Das war irgendwie beschämend, denn wir hatten ja immerhin schon vier Jahre Englischunterricht hinter uns. Allerdings merkten wir sehr bald, dass auch unsere Englischlehrerin mit den Amis nicht klarkam. Sie verstand sie nicht und konnte sich auch selbst schlecht verständlich machen. In den nächsten Tagen, wann immer ein Amerikaner bei uns vorbei schaute, verhandelte nur noch unsere Biologielehrerin mit ihnen. Mit ihr klappte die Verständigung.
Mit dem Einzug der Amerikaner war für uns der Krieg auf eine Art vorbei. Das war er natürlich noch nicht, aber immerhin waren die Verhältnisse jetzt klarer. Wir waren, zumindest fürs Erste, hinter der Front. Und uns war nichts geschehen, im Ort war nicht gekämpft worden. Wir konnten uns gut vorstellen was aus dem Gasthof geworden wäre, wenn diese riesigen Panzer auf ihn geschossen hätten. Tatsächlich hatte sich aber gar nicht so viel geändert, die Tiefflieger flogen nach wie vor und um uns herum war ständig Geschützdonner zu hören.
Für die Bewohner des Dorfes war eine Ausgangssperre angeordnet worden. Ab 18.00 Uhr durfte abends niemand mehr auf der Straße sein und am Morgen nicht vor 7.00 Uhr. Wer sich nicht daran hielt, konnte ohne Anruf erschossen werden. Für uns war das kein Problem, denn um diese Zeit waren wir sowieso schon im Haus. Aber wir hatten ein anderes Problem. Wir hatten nichts mehr zu essen.