Erbsen
Sommer 1945
Aber als wir bei der Stelle für die Lebensmittelkarten waren, hielt Weimar schon wieder eine neue Überraschung für mich bereit. Zwar bekam ich jetzt meine Lebensmittelkarten, aber auch wieder eine Auflage: Ernteeinsatz. Und zwar schon gleich morgen früh. Nahmen die Überraschungen denn gar kein Ende? Ich wollte mich doch so gerne einmal ausschlafen. Aber daraus sollte wohl in der nächsten Zeit nichts werden. Allerdings bekam ich dafür, dass ich bei der Ernte half, eine höhere Lebensmittelkarte. Und das war ja auch nicht schlecht.
Am nächsten Morgen stand ich also wieder auf dem Platz vor der Post, diesmal um 6.30 Uhr und war gespannt, was mich heute erwarten würde. Es war schon eine größere Gruppe da, als ein Lastwagen eintraf, der uns zu unserem Feld fahren würde. Diesmal konnten wir immerhin alle sitzen. Rechts und links waren schmale Bänke und in der Mitte noch eine breitere. Wenn wir zusammenrückten, war für alle Platz. Dann ging es los. Unterwegs erfuhren wir, dass wir nach Buttelstedt fuhren. Das liegt etwa zehn Kilometer nördlich von Weimar. Eigentlich sollten wir immer schon um sieben Uhr anfangen, doch das schaffte der Lastwagen ganz selten. Er fuhr uns direkt bis ans Feld und dann wurden wir eingewiesen. Wir mussten Erbsen pflücken. Es war ein riesiges Feld. Wir bekamen einen Sack in die Hand gedrückt und wurden vor eine Reihe gestellt. Diese Reihe mussten wir bis zum Ende durchpflücken, dann bekamen wir eine neue Reihe. Aber manchmal war es auch schon Feierabend, wenn wir am anderen Ende ankamen. Das Feld war wirklich riesig.
Erbsen pflücken klingt ganz einfach. Aber Erbsen wachsen an sehr niedrigem Strauchwerk, man muß sich also die ganze Zeit bücken und der Kopf hängt ständig nach unten. Dazu den ganzen Tag die pralle Sonne. Und Erbsen sind zwar klein und leicht, aber wenn der Sack voll war, wog er einen Zentner. Ich weiß, dass das heute keine gebräuchliche Maßeinheit mehr ist - genau wie das Pfund, aber ich bin eben damit aufgewachsen: Ein Zentner sind 50 Kilo. Arbeitsende war dann um 16 Uhr. Mit einer Viertelstunde Frühstücks- und einer halben Stunde Mittagspause. Von Montag bis Sonnabend. So gegen 17 Uhr waren wir dann meist wieder in Weimar.
Es war meine erste Arbeit dieser Art. Da habe ich am ersten Tag auch noch nicht so viel geschafft. Nicht mal einen Zentner. In den darauf folgenden Tagen hat sich das aber geändert. Jeden Tag schaffte ich ein bisschen mehr. Ab der zweiten Woche habe ich jeden Tag zwei Zentner gepflückt. Und das blieb bis zum Schluss so. Viel zu schaffen hat sich gelohnt. Denn, das habe ich noch gar nicht erzählt, wir wurden auch bezahlt. Es gab einen Grundlohn, den bekam man auf jeden Fall. Aber für alles, was man über einen Zentner hinaus pflückte, gab es einen Zuschlag. Mit meinen zwei Zentnern habe ich ganz gut verdient.
Aber Geld stand damals gar nicht so im Vordergrund. Essen war knapp. Das war viel schlimmer. Mehr Geld zu verdienen half einem da gar nicht. Aber wir bekamen jeden Abend Erbsen mit nach Hause. Und diese Menge hing auch davon ab, wie viel man gepflückt hatte. Und mit zwei Zentnern lag ich durchaus mit an der Spitze. Die absolute Spitzenleistung lag bei zweieinhalb. Aber das habe ich nie angestrebt. Wenn mein zweiter Sack voll war, war für mich Feierabend.
Ich weiß noch, wie meine Tante sich freute, als ich am ersten Abend mit einer Tüte Erbsen nach Hause kam. Wenn man keinen eigenen Garten hatte, war frisches Gemüse ein echter Luxus. Allerdings nahm die Freude mit den Tagen doch ab. Wir pflückten ja nur Erbsen, also bekamen wir auch nur Erbsen. Was in den ersten Tagen gut geschmeckt hatte, war am Ende der Woche nicht mehr so begehrt. Aber meine Tante war sehr wendig. Sehr schnell hatte sie Leute in ihrem Bekanntenkreis ausfindig gemacht, die gerne einmal Erbsen haben wollten und ihr dafür irgend etwas anderes geben konnten: Milch für ihren kleinen Sohn oder für uns Butter, Eier, Wurst oder andere Nahrungsmittel. So hatten wir plötzlich so manchen Leckerbissen auf dem Tisch, den es auf Lebensmittelkarten nicht zu kaufen gab.
Der Vertrieb am Abend klappte reibungslos. Kaum war ich zur Tür herein, nahm meine Tante die Erbsen und brachte sie auch schon zu den Leuten, mit denen sie über Tag den Tausch ausgemacht hatte. Manchmal saßen diese aber auch schon bei uns in der Wohnung und haben auf mich gewartet. Es erinnerte mich an unsere Bonbonwährung in Kiritein. Dort bekam man Begehrtes für Bonbons, jetzt zahlten wir mit Erbsen. Von dem Geld, das ich auf dem Feld verdiente, wollte meine Tante übrigens nichts haben. Das konnte ich für mich behalten. Mein Beitrag zum Haushaltsgeld waren die Erbsen.
Vielleicht zwei Monate ging das so. Meine Tante hatte das Tauschsystem gut entwickelt. Eines Tages kam ich nach Hause, da wartete eine besondere Überraschung auf mich. Meine Tante hatte Erbsen gegen ein Paar neue Schuhe für mich eingetauscht. Das war für mich der schönste Handel gewesen, denn ich trug ja immer noch die Schuhe meines Onkels. Die jetzt, wo meine Füße längst wieder abgeschwollen waren, noch mehr zu groß für mich waren.