Mutter ist da
Mitte Juli 1945
Mein Tage waren so ausgefüllt, dass ich gar nicht darüber nachdachte, wann ich wohl wieder nach Berlin komme. Die Gedanken waren schon da, nur mochte ich mich nicht so recht damit beschäftigen. Ich wusste ja nicht mal, ob ich überhaupt noch eine Familie in Berlin hatte. Es gab keine Post, kein Telefon, keine Zeitung. Niemand konnte mir etwas darüber sagen, wie es in Berlin aussah. Und was durchziehende Flüchtlinge oder entlassene Soldaten über den Endkampf in Berlin erzählten, das ließ einem das Herz in die Hose rutschen. Es hörte sich schrecklich an. Schrecklich hoffnungslos.
So gingen die Tage mit Erbsen pflücken dahin. Es war etwa Mitte Juli, wir waren nach unserer Mittagspause schon wieder an der Arbeit, als es plötzlich Unruhe gab. Eigentlich wussten wir gar nicht was los war. Aber mit einem Mal hörten alle auf zu pflücken. Wir standen da und sahen zum weit entfernten Feldweg. Sicher, da fuhren Autos lang, aber das war nicht besonders ungewöhnlich. Der Weg war zwar schmal und nur für die Bauern da, aber manchmal fuhren auch Jeeps der Amerikaner vorbei. Warum also sahen jetzt alle dorthin? Das Feld war sehr groß und ich war weit weg von der Straße, sah eigentlich auch nicht mehr, als dass da Autos fuhren. Doch es waren mehr als sonst und sie sahen auch irgendwie anders aus. Und noch ehe ich mir den Unterschied so richtig klar machen konnte, ging ein Satz durch unsere Reihen: Die Russen sind da!
Nun war also wirklich passiert, worüber man schon seit ein paar Tagen in der Stadt munkelte. Es hieß, dass der Amerikaner sich aus Thüringen zurückziehen und dieses Gebiet den Russen überlassen würde. Es war eigentlich kein schöner Gedanke. An die Amerikaner hatten wir uns gewöhnt und über die Russen wurden schlimme Geschichten erzählt. Was würde sich nun für uns ändern? Die Stimmung war von einem Moment zum anderen sehr bedrückt. An diesem Nachmittag wurde nicht mehr sehr viel gepflückt. Jeder war mit seinen Gedanken bei dieser sehr einschneidenden Veränderung. Was würde sie für ihn bedeuten?
Als ich am Abend nach Hause kam, war auch meine Tante sehr aufgeregt. Das Nebenhaus musste in ganz kurzer Zeit geräumt werden, einige Russen waren schon jetzt dort eingezogen. Würden sie auch das Haus beschlagnahmen, in dem unsere Wohnung lag? Wo sollten wir dann hin? Meine Tante hatte jedenfalls schon vorsorglich Papiere und die wichtigsten Sachen griffbereit in einen Koffer gepackt. Doch glücklicherweise konnten wir bleiben. Einige Tage lebten wir in dieser Ungewissheit, aber irgendwann hatte sich alles wieder normalisiert.
Auch an meinem Ernteeinsatz änderte sich nichts. Nur hatte ich jetzt immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich morgens an der Kaserne, die an meinem Weg lag, vorbei ging. Sicher, auch an die dunkelhäutigen Amerikaner, die dort Wache hielten, hatte ich mich gewöhnen müssen. Jetzt standen eben Russen vor der Kaserne Wache. Und auch sie sahen ganz fremdländisch für mich aus. Aber wieder auf ganz andere Art als die Amerikaner. Ich war jedenfalls immer sehr froh, wenn ich an der langen Mauer und dem Tor vorbei war.
So verging Tag um Tag, mittlerweile war es August. Wieder kam ich abends vom Feld nach Hause und erlebte eine große Überraschung. Ich hatte schon in der Diele Stimmen gehört, wusste aber nicht wer zu Besuch gekommen war. Dafür war die Freude um so größer, als ich die Tür öffnete. Meine Mutter war da. Sie hatte tatsächlich den Brief erhalten, den ich im Juni ihrem Cousin Hans mitgegeben hatte! Nun war sie gekommen, um mich nach Berlin zu holen.
Ein Gutes hatte der Abzug der Amerikaner aus Thüringen nun aber - zumindest für mich. Bisher war die Mulde, ein Nebenfluss der Elbe, die Grenze zwischen den Gebieten der Russen und der Amerikaner gewesen. Von einer Zone in die andere zu wechseln war schwierig, ich durfte ja nur auf amerikanischem Gebiet sein. Die Mulde ist ein wirklich kleiner Fluss. Wenn man von Berlin nach Weimar fährt, bemerkt man ihn überhaupt nicht, so klein ist er. Trotzdem war sie bisher ein unüberwindliches Hindernis. Aber nun war ganz Thüringen russisch und ich konnte sie ungehindert überqueren.