Schule ohne Bücher
Ende August 1945
Jetzt war ich endlich wieder zu Hause, worauf ich mich so gefreut hatte, aber es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Wir hausten in diesem einen Zimmer und das Leben im zerstörten Berlin war wirklich nicht leicht. So etwas wie die von früher gewohnte Normalität gab es nicht mehr. Wobei, Ende August kam doch ein Stückchen Normalität zurück in mein Leben: Die Schule begann.
Schule, das hatte ich beinahe vergessen. Während früher, noch vor einem halben Jahr, die Schule das Allerwichtigste für uns gewesen war, hatte ich nun schon lange nicht mehr an sie gedacht. Aber es gab sie noch und sie begann wieder. Das Gebäude unserer Schule war nicht von Bomben getroffen worden, wohl aber das Gymnasium. Deshalb teilten wir uns das Gebäude nun mit den Jungs. Eine Woche kamen sie am Vormittag und wir am Nachmittag, die nächste Woche war es dann andersherum.
Am ersten Tag waren wir dreißig Mädchen in der Klasse. Das änderte sich aber sehr oft, manchmal täglich. Für einige Zeit waren wir sogar 52 in der Klasse. Das war schon sehr eng, die Räume waren ja noch die selben. Für das Lernen am schlimmsten war aber, dass keine zwei Mädchen den gleichen Unterricht gehabt hatten. Zu meiner Klasse gehörte auch keines der Mädchen, mit denen ich in Kiritein oder Luhatschowitz gewesen war. Von ihnen habe ich keine jemals wiedergesehen. Jetzt waren in meiner Klasse überwiegend Flüchtlingskinder aus Schlesien und Ostpreußen. Darum auch der ständige Wechsel. Hatte das Rote Kreuz Verwandte von ihnen in einem anderen Teil Deutschlands ausfindig gemacht, dann zogen sie dorthin. Andererseits kamen täglich neue Flüchtlinge in Berlin an. Und wenn Kinder dabei waren, dann mussten diese eben zur Schule gehen. So war es ein ständiges Kommen und Gehen und ein normaler Unterricht war schon deshalb kaum möglich.
Aber der Unterricht war sowieso nicht mehr so, wie wir ihn gewohnt waren. Vor allem unterrichtete keine unserer früheren Lehrerinnen mehr. Nicht, weil sie nicht wollten, sondern weil sie nicht durften. Lehrer hatten, so hörten wir es jetzt, in der Partei sein müssen. Während des Krieges mussten sie, vorher sollten sie. Nun, nach dem Krieg, durften sie wegen dieser Parteizugehörigkeit nicht mehr unterrichten. Den Unterricht machten jetzt die Lehrer, die sich geweigert hatten in die Partei einzutreten. Damals verloren sie deshalb ihre Stellung, nun durften sie wieder unterrichten, wurden sogar sehr dringend gebraucht. Allerdings waren sie mittlerweile bis zu zehn Jahre aus dem Schulbetrieb raus, hatten in der Zwischenzeit etwas ganz anderes gemacht. Das war nicht einfach für sie.
Das nächste Problem waren die Schulbücher. Es gab nämlich keine. Und die noch vorhandenen durften nicht benutzt werden. In jedem Buch war auf einer der ersten Seiten ein Reichsadler abgedruckt, der auf einem Hakenkreuz saß. Dieses Zeichen war jetzt verboten und damit das ganze Buch. Und es gab nichts von dem zu kaufen, was man für die Schule sonst noch so benötigte: Hefte, Bleistifte, Füller und Tinte - nichts gab es. Jeder nahm, was er irgendwie zu Hause finden konnte, aber die Flüchtlingskinder hatten meist nichts von alledem. So wurde insgesamt bei uns sehr wenig geschrieben.
Es gab auch Veränderungen hinsichtlich des Unterrichtsstoffes. Ich war jetzt in der 6. Klasse, also im 10. Schuljahr und da war eigentlich schon längst die zweite Fremdsprache fällig. Normalerweise war das Französisch. Uns wurde aber nur Russisch angeboten. Aber auch dafür gab es keine Schulbücher. Wir bekamen jede Lektion auf einem abgezogenen Blatt Papier. ORMIG hieß das Verfahren. Der Text wurde auf eine Art Durchschlagpapier getippt und dann von Hand, Bogen für Bogen durch einen Apparat mit einer Walze gedreht. War die Farbe frisch, waren die Bogen gut lesbar. Zum Ende hin verblasste die Farbe mehr und mehr. Wer solch einen Bogen erwischte, noch dazu in den unbekannten Buchstaben, der war schlecht dran. Da uns die Buchstaben noch fremd waren, konnten wir nicht mal raten, wie das Wort wohl heißen sollte. Eine richtige Russischlehrerin hatten wir auch nicht. Wir lernten es bei unserer Englischlehrerin. Nicht, dass sie die Sprache beherrschte. Sie lernte sie auch erst und war uns immer nur zwei Lektionen voraus.