DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Buchenwald

4. Juni 1945

Am nächsten Morgen war es wieder nichts mit ausschlafen. Ich musste ja schon um sieben Uhr vor der Post sein, um ins Lager Buchenwald zu fahren. Meine Tante weckte mich, es gab ein schnelles Frühstück und dann machte ich mich auf den Weg hinunter in die Stadt. Doch bevor ich ging, wurde ich noch ermahnt: Wenn du auf dem Weg in die Stadt die Männer in den weißen Anzügen triffst, dann geh am besten auf die andere Straßenseite oder zumindest auf den Fahrdamm. Natürlich hatte ich Fragen dazu, doch meine Tante schob mich schnell aus der Tür, meinte, ich müsse los. Sagte aber auch, es sei eher unwahrscheinlich, dass ich sie treffe. Es wäre noch zu früh.

Ich rannte die Treppe hinunter und machte mich auf den Weg zur Stadt. Unterwegs grübelte ich. Diese Männer in den weißen Anzügen, wer waren sie? Ich hatte sie gestern schon überall in der Stadt gesehen. Sie waren immer in kleinen Gruppen unterwegs, niemals einzeln. Und alle trugen diese sonderbaren weißen Anzüge. Sicher, es war sehr warm, doch ich hatte vorher noch nie Männer in solcher Kleidung gesehen. Wo kamen sie her? Ob sie mit den Amerikanern gekommen waren? Aber das konnte ich mir nicht vorstellen.

Auf meiner Wanderschaft bin ich ja durch verschiedene Städte gekommen, habe aber nirgends solche Männer gesehen. Sie wirkten sonderbar auf mich, irgendwie beunruhigend. Wie ich so darüber nachdenke fällt mir ein, dass meine Tante gestern ständig die Straßenseite gewechselt hatte. Ohne dass sie dort jemanden begrüßt oder sonst irgendwas gemacht hätte. Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht, aber das war dann wohl auch diesen sonderbaren Männern geschuldet. Davon sind uns nämlich einige entgegen gekommen. Aber warum man ihnen besser auswich, das wusste ich immer noch nicht. Es gab viel Neues für mich hier in Weimar.

Auf dem Platz vor der Post warteten schon viele Menschen. Es waren überwiegend Frauen, meist ältere, ganz wenige Männer und überhaupt keine Kinder. Brauchten Kinder diese Fahrt nicht machen? Aber ich musste doch mitfahren? Galt ich nicht mehr als Kind? Das waren aber nur meine Gedanken. Fragen konnte ich niemanden.
Ein offener Lastwagen fuhr vor und wir mussten hinauf. Rechts und links waren Bänke, wer keinen Platz fand, musste in der Mitte stehen. Dicht gedrängt standen wir da. Es war eine ganz eigenartige Stimmung. Keiner sah den Anderen an, alle blickten stumm nach unten oder irgendwo in die Ferne. Der Wagen fuhr langsam los, ich glaube wir brauchten eine knappe Stunde. Auf der ganzen Fahrt wurde kein Wort gesprochen, es war eine beklemmende Atmosphäre. Auch mir wurde es immer unbehaglicher. Es kam für mich aber auch nicht in Frage, in die Runde zu fragen, was uns am Ziel erwartete. Obwohl mich diese Frage immer mehr bedrängte.

Ich dachte noch einmal an die Worte meiner Tante, die immer nur wiederholte: „Etwas ganz Schreckliches!“ Und auch: „Das Lager!“ Ich konnte damit nichts anfangen. Und warum wurde von dem Lager nur geflüstert? Als ich 1942 nach Luhatschowitz fuhr, war ich doch auch in ein Lager gekommen, ein KLV-Lager. Da konnte ich mir vorher auch nichts rechtes drunter vorstellen. Vor Ort waren es dann Hotels. Doch es gab auch andere Lager. Wenn man nämlich mit 18 Jahren zum Arbeitsdienst eingezogen wurde, dann kam man meist in ein Barackenlager. Aber das war allgemein bekannt, da flüsterte keiner darüber. Es blieb rätselhaft.

Der Wagen rumpelte die ganze Zeit leicht bergauf. Noch eine letzte Kurve und wir waren da. Durch die Einfahrt ging es auf einen riesigen Vorplatz, dann hieß es: Aussteigen! Und plötzlich hatte ich das Gefühl, als läge ein dickes Eisenband um meine Brust. Konnte ich überhaupt noch atmen? Aus den niedrigen Bauten kamen eine Menge Männer, überwiegend in diesen weißen Anzügen. Ich dachte gerade noch: Ach, von hier kommen sie also!, als wir schon aufgefordert wurden, einzeln, einer hinter dem anderen, den Rundgang zu beginnen.

Wir gingen in die erste Baracke, langsam, in einer Reihe und mussten nach rechts sehen. Die Männer hinter uns passten sehr genau auf, dass wir nicht den Kopf wegdrehten oder in eine andere Richtung sahen. Dazu wurde uns etwas erzählt. Wie schon gesagt, ich wusste ja nicht, was ich mir ansehen sollte, als ich in Weimar losfuhr. Und ich verstand auch nicht wirklich, was ich hier sah. Alles, was ich heute über Konzentrationslager weiß, das erfuhr ich erst in den Jahren danach. Damals kannte ich noch nicht einmal das Wort. Und was ich jetzt sah, das begriff ich nicht. Es war grauenvoll. So ging das durch insgesamt vier Baracken. Zum Schluss dachte ich, ich würde es nicht mehr bis zum Ausgang schaffen. Doch es ging. Und dort, an der letzten Tür, konnten wir dann die Karten vorlegen, die wir in der Anmeldestelle erhalten hatten. Sie wurden abgestempelt und ich würde jetzt eine Lebensmittelkarte bekommen. Völlig benommen kletterten wir wieder auf den Wagen, der uns zurück nach Weimar brachte. Wieder wurde auf der Fahrt kein Wort gesprochen.

Dann war ich zurück bei meiner Tante. Kein Wort darüber, wie es mir geht oder wie ich mich fühle, keine Erklärung. Der normale Alltag war wieder da. Sie sah auf die Uhr und meinte nur, dass wir es noch vor der Mittagspause schaffen würden die Lebensmittelkarten zu holen, wenn wir gleich losgingen. Also gingen wir los. Ich hatte gar keine eigene Meinung mehr. Mir war alles recht.