Lotti liest
Winter 1942
Wir waren also praktisch immer irgendwie beschäftigt: Unterricht bis Mittag, Hausaufgaben, dann mit Moritz unterwegs. Und wenn wir ausnahmsweise mal nicht draußen waren, hielten wir uns im Gemeinschaftsraum auf. In unserem Zimmer verbrachten wir deshalb kaum Zeit, eigentlich schliefen wir dort nur. Und vermutlich hat das einigen Streit unter uns vermieden, denn, wie schon gesagt, das Zimmer war ziemlich eng. Natürlich kam es trotzdem gelegentlich zu Reibereien, aber insgesamt haben wir uns eigentlich sehr gut vertragen.
An einen ernsteren Streit erinnere ich mich aber noch, den hatten wir mit Lotti. Sie war eines der Mädchen aus meiner Berliner Klasse und hatte eine Sonderstellung, weil sie sehr schlecht laufen konnte. Als kleines Kind hatte sie Kinderlähmung gehabt und davon ein steifes rechtes Bein zurückbehalten. Damit sie überhaupt einigermaßen gehen konnte, trug sie unförmige orthopädische Schuhe, die auch die halbe Wade bedeckten. Daran waren noch zwei Metallstützen befestigt die bis übers Knie reichten und ihrem Bein erst den nötigen Halt gaben. Übrigens hat man Menschen mit solchen Hilfsmitteln damals recht häufig gesehen, Kinder wie auch Erwachsene.
Aber Lotti war sehr belesen und man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Sie war auch eine sehr gute Schülerin. Und sie gestatte dem Mädchen im Bett über ihr großzügig, beim Bettenbauen auf ihr Bett zu steigen (sie schlief natürlich unten). Gab es mal Streit zwischen den beiden, wurde diese Genehmigung zurückgezogen. Aber wir kamen gut mit ihr aus und räumten ihr auch mehr Platz ein, denn An- und Ausziehen war für sie viel aufwändiger als für uns.
Aber natürlich konnte sie mit ihrer Behinderung viele Aktivitäten nicht mitmachen. Vor allem konnte sie mit dem steifen Bein nicht marschieren. Wenn wir spazieren oder einkaufen gingen, kam sie mit. Aber von praktisch allen anderen Unternehmungen, die unser Tagesablauf so mit sich brachte, war sie ausgeschlossen. Sie saß dann im Zimmer und las. Wir hatten eine recht gut sortierte Leihbücherei im Haus und eine noch bessere und größere im Kurmittelhaus. Die Bücherei im Haus wurde von unserer Deutschlehrerin betreut und Lotti half ihr oft und war sicher auch die eifrigste Leserin. Für uns hatte das Vorteile. Bücher, die sehr gefragt waren und daher eine Warteliste hatten, bekam Lotti immer schneller. Und wir haben das Buch dann auch gleich gelesen. So weit – so gut.
Es gab unter uns nicht viele Regeln. Eigentlich nur, dass man nicht an die Spinde der anderen ging und nicht ungefragt ihre Sachen benutzte. Vor allem galt aber, dass diejenige, die ein neues Buch bekommen hatte, es zuerst lesen konnte. Und genau deshalb gab es eines Tages Streit mit Lotti.
Ich hatte nämlich Weihnachten 1942 das Buch 'Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann' von meinen Eltern bekommen. Das war ein ziemlich dicker Schmöker und ich habe mich sehr darüber gefreut. Allerdings hatten wir zum Lesen nicht besonders viel Zeit. Unser Tagesplan ging bis 20 Uhr und um 21 Uhr kam Moritz und knipste das Licht aus. Hatte man dann vielleicht noch im Waschraum getrödelt oder sich mit jemandem aus einem anderen Zimmer unterhalten, blieb recht wenig Zeit übrig. Ich konnte deshalb jeden Tag nur einige wenige Seiten lesen.
Eines Tages kamen wir von einem Ausmarsch früher als erwartet nach Hause. Es war kalt draußen und wir waren sehr durchgefroren. Freuten uns auf unser warmes Zimmer. Als wir die Tür öffneten, bot sich uns ein merkwürdiges Bild. Lotti, die ja bei den Ausmärschen immer zu Hause blieb, hatte es sich bequem gemacht. Mit zusammengeschobenen Stühlen und mehreren Decken thronte sie da und las ganz versunken in einem Buch. Dieser Anblick war an sich schon eigenartig. Doch ich war wie vom Donner gerührt als ich sah, dass sie im Rinaldo Rinaldini las. Meinem neuen Buch, das ja draußen in meinem verschlossenen Spind lag. Liegen sollte, besser gesagt. Na, da war aber die Empörung groß. Ich versuchte ihr das Buch wegzunehmen, aber sie war größer und so kam ich nicht heran. Doch die anderen Mädchen halfen mir, sie waren genauso empört. Und nun hatten wir mit einem Male ein Problem im Zimmer.
Es war ja nicht so, dass wir den anderen nichts abgaben, wenn wir mal etwas von Zuhause geschickt bekamen. Und auch unsere Bücher haben wir alle immer im Zimmer verliehen. Das war überhaupt keine Frage. Aber eben immer erst dann, wenn derjenige, dem das Buch gehörte, es selbst schon gelesen hatte. Und nun ging Lotti in unserer Abwesenheit an unsere verschlossenen Schränke. Das konnten wir überhaupt nicht begreifen.
Wir hatten sie immer bedauert, weil sie zu vielen Unternehmungen nicht mitkommen konnte. Wenn wir zurückkamen, saß sie meist am Fenster und sah hinaus, über die Wiese in den Wald. Sie war froh, wenn wir wieder da waren und ihr erzählten, was Moritz mit uns unternommen hatte. Jetzt aber, wo wir überraschend früher nach Hause kamen, sahen wir das in einem neuen Licht. Hatte sie uns da vielleicht etwas vorgespielt? Und natürlich kam auch der Verdacht auf, dass mein Buch nicht das erste war, das sie sich in unserer Abwesenheit aus unseren Schränken holte. So nach und nach fielen den anderen Mädchen denn auch verschiedene Gelegenheiten ein, bei denen ihre Schränke nicht in der richtigen Ordnung gewesen waren.
In seinem eigenen Spind findet man sich blind zurecht. Der Inhalt musste nämlich immer in einer bestimmten, vorgegebenen Ordnung ausgerichtet sein. Wenn man die Tür aufmachte, sahen also erst mal alle Spinde sehr ähnlich aus. Oder sollten es zumindest. Und Bücher stehen nicht vorne, die schiebt man nach hinten. Wenn man sie von hinten vorholte, brachte man vorne etwas durcheinander. Nun fiel den anderen ein, dass sie manchmal ihre Sachen eben nicht blind gefunden hatten. Sie hatten sich gewundert, aber nicht weiter darüber nachgedacht. Jetzt schien Lotti hinter all dem zu stecken. Wir hatten ein Problem.
Wir waren immer sehr stolz auf unser gutes Zimmerklima gewesen. Wohl das auch zu recht, denn in vielen Zimmern waren Streitereien an der Tagesordnung. Warum es bei uns besser funktionierte als bei vielen anderen, kann ich nicht sagen, sicherlich hat es geholfen, dass sich sechs von uns acht schon aus Berlin kannten. Aber wir haben auch einen guten Umgang miteinander gefunden. Wir sprachen nämlich alle Probleme an und gaben uns Mühe, sie unter uns zu klären. Manchmal stimmten wir auch ab, wie wir etwas künftig handhaben wollten. Wenn ich so zurückdenke, staune ich darüber noch nachträglich, denn das war keine Vorgehensweise wie sie sonst üblich war.
Und so lösten wir auch das Problem mit Lotti. Wir nahmen ihr das Versprechen ab, dass sie nicht mehr an unsere Schränke ging und machten ihr deutlich, wie wichtig uns das war. Nachdem meine erste Wut verflogen war, kam ich ihr sogar mit dem Rinaldo ein Stück entgegen, sie durfte darin lesen wenn ich nicht da war - aber nur bis zu meinem Lesezeichen. Nicht weiter. Irgendwie war mir das wichtig. Ich wollte mich auf ungelesene Seiten freuen können.