DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Hungrig in Zinst

Anfang Mai 1945

Wir fragten uns, wer nun eigentlich für uns zuständig war? An wen konnten wir uns wenden, um etwas zu essen zu bekommen?
Scheinbar an niemanden.

Seit wir nach Deutschland zurückgekommen waren, war es immer das Militär gewesen, das uns sagte, was wir tun sollen. Der Stadtkommandant hatte uns die Schule zugewiesen, Soldaten hatten uns dann von Kemnath nach Zinst gebracht und auch für die Kartoffeln gesorgt. Aber deutsche Soldaten gab es hier natürlich überhaupt keine mehr. Und wären welche da, hätten sie sicher nicht über die Zuteilung von Lebensmitteln entscheiden können. Als wir nach Kemnath kamen, war dort auch noch ein Bürgermeister im Amt, das wussten wir. Zinst war zu klein, hier gab es keinen. Aber selbst wenn es einen gegeben hätte, wäre er jetzt nicht mehr im Amt. Er war ja in der Partei gewesen – sonst hätte er das Amt nicht erhalten – und Parteimitglieder waren jetzt sämtlicher Ämter enthoben.

Aber auch die Amerikaner fühlten sich nicht für uns zuständig. Was gingen sie Berliner Kinder an? Das war die kämpfende Truppe. Für Probleme von Zivilpersonen waren sie nicht zuständig. Aber uns knurrte der Magen. Wir waren 56 Kinder und 7 Erwachsene die in diesem Dorf festsaßen und hatten nichts zu essen. Und so versuchten wir bei den umliegenden Bauern etwas zu erbitten. Wir zogen einzeln oder in kleinen Gruppen los und klopften an alle Türen. Aber oft wurden wir abgewiesen oder bekamen nur Kleinigkeiten, etwas altes Brot oder ein paar verschrumpelte Äpfel. Es war eine sehr mühsame Art, so eine große Gruppe Menschen zu ernähren.

Am meisten Glück hatten die Kleinen, die aus der 2. Klasse. Oder, anders gesagt, mit denen hatten die Bauern wohl das meiste Mitleid. Die brachten schon mal eine große Kanne Milch mit, eine Wurst oder auch mal eine Tüte mit Knochen. Die haben wir dann zuerst im ganzen ausgekocht. Dann wurden die Knochen in kleine Teile zerklopft und noch einmal ausgekocht. Damit keiner einen Knochensplitter verschluckt, wurde die Brühe durch ein Stück von einem Bettlaken gegossen. Not macht erfinderisch und so hatten wir immerhin eine kräftige Brühe.

Mit der Zeit bildete sich eine regelrechte Arbeitsaufteilung heraus. Einige gingen herum und baten um Lebensmittel, andere sammelten Sauerampfer und Löwenzahn. Und sehr aufwändig war auch die Brennholzbeschaffung. Wir hatten ja im Hof den alten Herd stehen, den wir mit Holz heizten. Und um einen großen Kessel mit Knochenbrühe oder eine Portion von etwa 130 Pellkartoffeln zu kochen, braucht man schon einiges Holz. Wir durften ja nur das nehmen, was auf dem Waldboden lag. Und wir hatten auch kein Werkzeug, um größere Stücke kleinzumachen. Wir waren also auf das Reisig angewiesen. Zuerst war das kein Problem, es lag genug da. Aber je länger wir in Zinst waren - am Schluss waren es gut fünf Wochen, desto weiter mussten wir laufen um noch etwas zu finden. Es ist dort zwar eine waldige Umgebung, aber es sind immer nur kleine Waldstücke. Und wir konnten ja auch immer nur so viel nehmen, wie wir tragen konnten. Hilfsmittel zum Transport hatten wir nicht. Es war zum Ende eine sehr mühsame und zeitaufwändige Aufgabe, die vor allem von uns größeren Mädchen übernommen wurde. Ich war am Abend jedenfalls immer sehr müde und zerschlagen.

Inzwischen war der Krieg auch offiziell beendet. Doch für uns änderte sich dadurch nichts. Ausgangssperre bestand nach wie vor und niemand fühlte sich für uns zuständig. Allerdings gab es mittlerweile eine amerikanische Dienststelle, an die sich Zivilisten mit ihren Anliegen wenden konnten. Unser Direktor konnte deshalb mit irgendjemandem irgendwo (wo weiß ich nicht) über unsere Rückkehr in die Hauswirtschaftsschule in Kemnath verhandeln. Und er hatte Erfolg! Wir könnten dort wieder einziehen, sobald sie leer war. Momentan waren dort amerikanische Soldaten untergebracht.

Deshalb gingen wir Größeren täglich nach Kemnath und sahen nach, ob 'unser' Haus schon wieder frei war. Wann die Soldaten dort abziehen würden, sagte man uns nämlich nicht. Also mussten wir das selbst kontrollieren. Diese Aufgabe fiel den Mädchen der 5. und der 6. Klasse zu (ich war damals in der 5.). Die Klassen wechselten sich täglich ab, gingen dann aber jeweils geschlossen die 10 Kilometer nach Kemnath. Aber so brauchten wir nicht jeden Tag gehen, sondern nur jeden zweiten. Diejenigen die da blieben, suchten dann natürlich Brennholz. Wir waren also voll beschäftigt.