DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Stein sein

Ende April 1945

Sie waren sonderbar, diese Tage in Zinst. Weil der Tanzsaal als Aufenthaltsraum für uns alle viel zu klein und das Wetter gut war, waren wir die meiste Zeit draußen. Wir durften uns nicht zu weit vom Haus entfernen, aber um den Gasthof herum war Wald und weite Wiesen und da hielten wir uns in kleinen Gruppen auf. Das waren meist Mädchen aus einer Klassenstufe, wobei wir darauf achteten, dass die Kleinen nie ganz alleine waren. Denn wir waren ja nach wie vor eine ganz gemischte Gruppe, von zehn- bis sechzehnjährigen Mädchen. Wir versuchten also uns irgendwie zu beschäftigen, zu spielen oder zu singen, schon um die Kleinen abzulenken. Aber das klappte nicht besonders gut, denn um uns herum war den ganzen Tag von allen Seiten Geschützdonner zu hören.

Und da der Krieg scheinbar überall um uns herum tobte, hatten wir auch keine Idee, von welcher Seite die Soldaten kommen würden. Die Soldaten, die, das war uns immerhin klar, ganz sicher demnächst kommen würden. Und wer würde es sein, Russen oder Amerikaner? Und dann die Tiefflieger. Sie flogen so niedrig, dass man sie überhaupt nicht kommen hörte. Und die auf alles schossen, was sich bewegte. Deswegen sollten wir uns lieber im Wald, als auf der Wiese aufhalten. Wer auf die Wiese ging, musste eine unserer wenigen grauen Militärdecken mitnehmen. Und wenn wir ein Flugzeug hörten, sollten wir die Decke über uns halten. Für den Piloten sähe es dann so aus, als sei das ein großer Stein. Sicher, solche Steine gab es hier viele. Aber ob der Pilot das auch dachte? Trotzdem haben wir immer eine Decke mitgenommen und uns darunter auch wirklich sicherer gefühlt. Und beschossen wurden wir auch nicht. Obwohl so mancher Tiefflieger über uns Steine hinweg flog.

Etwa eine Woche lebten wir so. Warteten darauf, dass jemand käme der uns irgendwo hinschickt oder uns die Situation erklärt. Aber niemand kam. Dafür kam der Geschützdonner immer näher. Und die Tiefflieger, die ja auch das Gebiet vor ihrer Truppe erkundeten, kamen immer häufiger. Deutsche Truppen, in dieser Gegend war es überwiegend die SS, sah man immer wieder in rasendem Tempo die Landstraße entlangfahren. Mal in Richtung Kemnath, mal in Richtung Wunsiedel. Vermutungen darüber, wo die Frontlinie wohl verläuft und wie sich die Kämpfe entwickeln, konnte man nicht anstellen.

Es war am 20.04.1945, nach dem Mittagessen. Mit einigen anderen Mädchen war ich am Bach und wir putzten unsere Kochgeschirre. Zur Erinnerung: Der Bach floss, etwas tiefer gelegen, neben der Straße entlang. Um zu ihm zu gelangen, überquerten wir also die Straße und stiegen die kleine Böschung hinab. Plötzlich hörten wir ein merkwürdiges, sehr lautes Rattern, wie wir es nie vorher gehört hatten. Es kam ganz plötzlich und sehr überraschend. Als wir aufblickten, sahen wir über uns auf der Straße eine Kolonne fremder Militärfahrzeuge. Zu Tode erschrocken standen wir auf und wollten schnell über die Straße um ins Haus zu gelangen, aber uns war der Weg versperrt. Die kleinen, vorausfahrenden Wagen waren durch (Jeeps, wie ich später lernte) und jetzt kamen riesige Panzer. Sie fuhren sehr langsam und vorsichtig. Zum einen wahrscheinlich weil sie ja nicht wussten, ob sich im Ort noch deutsche Truppen aufhielten aber auch, weil die Panzer so breit und die Straße so eng war. Uns schienen die Panzer fast so hoch zu sein wie das Haus.

Aber das war noch nicht alles. Auf jedem Panzer saßen sicher zwanzig Soldaten. Und sie waren überwiegend dunkelhäutig. Riesige rumpelnde Maschinen, auf denen schwarze Männer mit Gewehren saßen, das war ein Anblick, auf den wir nicht gefasst waren, der uns, das kann man sicher so sagen, verstörte. Die Soldaten hielten ihre Waffen im Anschlag und blickten aufmerksam in die Runde. Bereit, jederzeit zu schießen. Wir wussten nicht, ob sich bei uns in der Nähe noch irgendwo deutsche Soldaten aufhielten. Aber wir waren uns sicher, dass, würde jetzt auch nur ein Schuss fallen, im Nu das Chaos ausbrechen würde. Wir wünschten uns deshalb nichts sehnlicher, als uns im Haus verkriechen zu können. Aber dafür hätten wir die Straße überqueren müssen. Und das ging nicht, denn da fuhren die Panzer. Selbst als die Kolonne stoppte, wagten wir es nicht, zwischen den Panzern hindurchzulaufen. Dazu hatten wir viel zu viel Angst. Es blieb uns also nichts weiter übrig, als mit sehr viel Hingabe wieder und wieder unser Kochgeschirr auszuwaschen. Und zu hoffen, dass diese Panzerkolonne auch einmal ein Ende hat. Und das kein Schuss fällt.