DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Zugige Heimfahrt

Anfang August 1945

Die Ankunft meiner Mutter war für die gesamte Weimarer Verwandtschaft eine freudige Überraschung. Bis dahin hatte niemand gewusst, wie es den Berlinern ergangen war. Nun erfuhren sie, dass doch die ganze Familie den Krieg verhältnismäßig gut, zumindest lebend - überstanden hatte. Es gab viel zu erzählen und wir saßen oft in großer Runde zusammen. Dafür war einige Tage Zeit, denn ich musste sowieso noch bis zum Ende der Woche arbeiten. Und meine Mutter wollte sich auch einige Tage erholen, die Fahrt war wohl sehr anstrengend gewesen. Am Samstag ging ich mich dann ordnungsgemäß abmelden, damit ich auch in Berlin wieder eine Lebensmittelkarte bekommen würde.

Wieder hieß es für mich also Sachen packen und mich auf den Weg machen. Aber nun würde es ja wirklich die allerletzte Etappe sein. Meine Mutter besah sich erstaunt meinen selbstgenähten Rucksack und wollte gar nicht glauben, dass ich damit von Kemnath nach Weimar gelaufen war. Und wie viel da hinein ging. Kugelrund und prall war er. Und wer sollte den tragen? Ich natürlich. Das war doch klar. Meine Mutter selbst hatte gar kein Gepäck, nur eine größere Einkaufstasche für das Nötigste. Jetzt trug sie noch meine Aktentasche.

Nun hieß es Abschied nehmen. Meine Tante war ein bisschen traurig, konnte aber natürlich verstehen, dass ich nach Berlin zurück wollte. Auch mir tat es leid, wir hatten uns recht gut verstanden. Aber wir würden uns ja wiedersehen, der Krieg war vorbei!

Also gingen meine Mutter und ich zum Bahnhof. Wir gingen allein, denn es hatte keinen Sinn, jemanden zum Zug zu bringen. Es gab noch keinen Fahrplan. Es fuhren Züge. Auf manchen Strecken. Aber nicht regelmäßig, eher gelegentlich. Und man wusste vorher auch nicht wann und wohin. Man ging zum Bahnhof und wartete. Es hieß dann vielleicht: Ja, am Vormittag soll ein Zug in Richtung Osten gehen. Der konnte dann in einer Stunde kommen oder auch erst in drei oder vier. Oder gar nicht.

Wir hatten ziemliches Glück. Nach kaum einer Stunde kam ratternd und schnaufend ein Zug langsam in den Bahnhof gerollt. Und mit einem Mal war der Bahnsteig voller Menschen. Ich weiß gar nicht, wo die so plötzlich alle herkamen. Und alle wollten mit diesem einen Zug mitfahren. Allerdings war der schon voll. Und es stiegen nur wenige Leute aus. Aber zu meinem großen Erstaunen sind alle, die auf dem Bahnhof waren, auch mitgekommen. Es war ein schreckliches Gedrängel und Geschiebe. Ich hatte große Sorge, dass meine Mutter abgedrängt werden könnte oder dass eine von uns nicht mitkäme. Aber es ging alles gut. Und wir waren auch ziemlich nah beieinander, konnten uns sehen und auch mal etwas sagen. Aber bewegen konnten wir uns kaum, so eng gedrängt standen wir auf dem Gang.

Der Zug fuhr nur sehr langsam und hielt auch oft auf freier Strecke an. Es war unerträglich heiß, so dicht gedrängt, bei diesen hochsommerlichen Temperaturen. Aber dagegen konnte man nichts machen. Und es war immer noch besser, in einem vollen Zug langsam zu fahren, als diese Strecke zu Fuß zu gehen. Scheinbar sahen das die anderen (leider) auch so, denn ausgestiegen ist aus unserem Wagen bis Bitterfeld niemand. Vielmehr sind auf den wenigen Bahnhöfen an denen der Zug hielt, immer noch einige Leute zugestiegen.

Für die Strecke von rund 150 Kilometern brauchten wir fast fünf Stunden. Am Stadtrand von Bitterfeld war die Fahrt dann zu Ende. Alle mussten den Zug verlassen. Meine Mutter kannte das schon, auf der Fahrt von Berlin nach Weimar war es ihr auch schon so ergangen. Deshalb wusste sie auch, dass wir heute nicht mehr weiterkommen würden, uns also ein Quartier suchen mussten. Es hieß, dass jeden Morgen etwa um sieben Uhr ein Zug von Bitterfeld nach Berlin fahre. Der einzige für diesen Tag. Verpasste man ihn, musste man bis zum nächsten Tag warten. Das wollten wir auf keinen Fall. Wir würden deshalb direkt unsere Unterkunft aufsuchen und früh schlafengehen, um morgen rechtzeitig und ausgeschlafen am Bahnhof zu sein. Wir gingen zu dem Bauernhof, auf dem meine Mutter auch schon auf der Hinfahrt übernachtet hatte. Er war ein ganzes Stück außerhalb, aber sie war sicher, dass wir dort wieder unterkommen würden und es klappte auch. Mittlerweile war es später Nachmittag.

Am nächsten Morgen waren wir zeitig am Bahnhof. Die letzte Etappe konnte beginnen. Würde es eine bessere Fahrt werden als die letzte? Ich glaubte nicht daran. Die Menschen, die mit uns im Zug gewesen waren, wollten meiner Ansicht nach fast alle nach Berlin. Und so war es dann auch, der Bahnsteig füllte sich mehr und mehr. Es waren überwiegend Soldaten, die auf dem Weg nach Hause waren. Dann fuhr endlich der Zug ein. Ich hatte irgendwie geglaubt, dass der ankommende Zug leer sein würde, da doch die Züge vor Bitterfeld endeten. Aber der, der nun einfuhr, war nicht leer. Er war voll. Nicht so gedrängt voll, wie unserer von Weimar, aber doch gut gefüllt. Und hier warteten hunderte Menschen auf dem Bahnsteig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir je in diesen Zug gelangen würden. Auf dem Bahnsteig standen wir dicht an dicht, alles drängte zu den Türen. Ich hatte den Eindruck, dass schon jetzt niemand mehr hineinkam, dabei waren wir noch weit von der nächsten Tür entfernt. Der Zug bestand übrigens aus einem Sammelsurium verschiedenster Wagentypen, man hatte offensichtlich alles was noch rollte einfach hintereinander gehängt. Auch Güterwagen waren dazwischen.

Ein Blick auf die Verbindung zwischen zwei Eisenbahnwaggons. Der Zwischenraum auf den Puffern ist dicht besetzt und auch auf dem Dach sitzen schon einige Menschen.
So ungefähr sah unser Zug aus, als die ersten anfingen das Dach zu besteigen, weil unten kein Reinkommen mehr war. Allerdings waren bei uns die Dächer am Ende dicht besetzt. Dieses Bild stammt aus 1947/48.

Quelle: Wikimedia (Fotograf: Oberhauser) bzw. Bundesarchiv, B 145 Bild-F080295-0004 - Lizenz: Share Alike 3.0 Germany

Da nun offensichtlich wirklich niemand mehr hineinkam und die Türen geschlossen wurden, ließen sich die ersten auf den Trittbrettern nieder und einige Soldaten machten es sich auf den Puffern zwischen den Waggons bequem. Der Bahnhofsvorsteher rannte aufgeregt hin und her und wollte die Leute wieder von den Puffern herunter holen. Aber keiner beachtete ihn oder folgte seinen Anweisungen. Und nun fingen die übrigen Soldaten an, auf die Dächer zu klettern. Drei waren schon auf dem Dach des Wagens, vor dem wir standen. Sie machten einladende Handbewegungen, auch nach oben zu kommen. Ich sah meine Mutter an. Würde sie sich das zutrauen? Aber sie hatte kaum Zeit darüber nachzudenken. Ein Soldat nahm ihre Tasche und gab sie nach oben. Einer zog sie hoch, einer schob von unten und schon war sie auf dem Dach. Dann kam mein großer Rucksack hoch und mit etwas Unterstützung kletterte auch ich auf das Dach. Der Bahnbeamte beschwor uns derweil, herunter zu kommen. Unter den Brücken hätten wir nur 50 Zentimeter über uns. Und wenn nur einer nicht aufpassen würde, würde er klebenbleiben und alle nachfolgenden Wagendächer abräumen. Außerdem sei direkt über uns die Oberleitung, die Züge fuhren hier elektrisch. Aber keiner stieg ab.

Die geringe Brückenhöhe machte mir allerdings schon Sorgen, mein Rucksack war so dick. Ein Soldat half mir, ihn etwas flach zu drücken. Hier im Bahnhof konnten wir ganz gut auf dem Dach sitzen, mussten nur den Kopf etwas einziehen. Aber als sich der Zug dann in Bewegung setzte, mussten wir uns alle lang hinlegen. Anders ging es nicht, das Dach ist ja gerundet, fällt also zu den Seiten hin ab. Sitzen war einfach zu wackelig. Aber so auf dem fahrenden Zug zu liegen, das war ein sonderbares Gefühl. Quer zur Fahrtrichtung, Beine nach rechts, Arme nach links, auf dem runden Dach, dabei noch das Gepäck festhalten. Und da ist nichts, woran man sich selber hätte festhalten können.

War es besser, die Augen zu schließen oder sie offenzuhalten? Als ich hinunter sah merkte ich, dass wir ganz schön hoch waren. Ich entschloss mich stattdessen die Umgebung anzusehen. Wie würde es wohl unter den Brücken sein? Na, ich würde mich einfach ganz kleinmachen, mich ganz fest aufs Dach pressen und das Beste hoffen. Das hat auch ganz gut geklappt. Scheinbar passten alle auf, jedenfalls fiel niemand vom Zug. Und irgendwann war auch die Oberleitung zu Ende, da wurde es auf dem Dach richtig gemütlich. Auch dieser Zug fuhr nämlich sehr langsam und hielt oft auf freier Strecke. Aber hier oben machte es uns nichts aus. Wir hatten frische Luft, die Sonne schien und wenn der Zug stand, konnten wir sogar ein bisschen hin- und herlaufen. Wenn ich an die bedrückende Enge direkt unter uns dachte, war ich richtig froh, hier oben zu sein.

Die Fahrt nach Berlin dauerte sieben Stunden. Aber sie endete dann nicht etwa in einem Bahnhof. Nein, in Lichterfelde mussten wir auf freier Strecke aussteigen – für uns hieß das: absteigen – und uns quer über die Gleise den Weg zur Straße und in die Stadt suchen.

Eine Ausschnitt aus einer alten Landkarte. Die Berliner Innenstadt ist rot hervorgehoben und zeigt ein relativ gleichmäßiges Straßennetz. Heutige Randbezirke sind weit davon entfernte Dörfer.
Hier noch mal die Umgebungskarte aus dem ersten Kapitel.
Lichterfelde - wo unser Zug endete - ist oberhalb von Teltow (in der unteren linken Ecke). Reinickendorf ist fast genau gegenüber, am oberen Rand der (roten) Innenstadt.

Aufs Dach zu gelangen, war relativ einfach gewesen. Hinunterkommen war ein rechtes Kunststück. Es gab keinen Bahnsteig und auch hier ging es neben den Gleisen noch ein wenig hinunter. Es war wirklich schwierig, aber mit viel gegenseitiger Unterstützung gelang auch das.

Und endlich, endlich war ich wieder in Berlin. Im Mai 1942 war ich fortgeschickt worden, vor mehr als drei Jahren, da war ich zwölf. Aber nun war ich wieder zuhause, in Berlin, bei meinen Eltern und meiner kleinen Schwester. Und der Krieg war endlich vorbei. Alles würde jetzt gut werden.