DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Neue Schuhe

Herbst 1945

Langsam kam der Herbst, die nasse Jahreszeit. Da merkte ich, dass meine Schuhe für dieses Wetter nicht geeignet waren. Es waren immer noch diejenigen, die meine Tante in Weimar für Erbsen eingetauscht hatte. Sie hatten mir bisher gute Dienste geleistet, aber sie hatten eine sehr dünne Sohle und nun, bei Regenwetter, hatte ich ständig nasse Füße. Wie sollte das erst werden wenn Schnee lag?
Aber solche Gedanken waren nutzlos: Ich hatte keine Wahl, es gab keine Schuhe zu kaufen.

Eine lange Straße mit vierstöckigen Gebäuden, die alle reichstrukturierte Fassaden haben - aber vor allen Häusern türmen sich hohe Schuttberge, so dass nur die Mitte der Straße frei ist. Zwei Autos würden wahrscheinlich kaum aneinander vorbei passen.
So sahen die Straßen aus, als der Schutt immerhin schon mal an den Rand geräumt war. In solchen Haufen hat mein Vater wahrscheinlich meine 'neuen' Schuhe gefunden.

Quelle: Wikimedia bzw. Imperial War Museums - Lizenz: Public Domain

Aber eines Tages kam mein Vater mit vier einzelnen, ganz verschiedenen Schuhen nach Hause. Er hatte sie in den Trümmern gefunden, die immer noch die meisten Straßenränder und viele freie Flächen bedeckten. Ich sollte sie anziehen um zu sehen, welche noch am ehesten passten. Da war ich ja nun ziemlich skeptisch. Wie sollte das denn gehen? Und wie die Schuhe aussahen. Schließlich lagen sie schon seit Monaten bei Wind und Wetter in den Trümmerbergen. Doch mein Vater säuberte sie vom gröbsten Dreck und bestand danach auf einer Anprobe. Und wirklich, zwei der Schuhe konnte man - mit viel Phantasie - für ein Paar halten. Sie hatten nicht die gleiche Farbe, einer war braun, der andere schwarz. Und sie hatten auch nicht meine Größe und auch beide nicht die gleiche, aber immerhin waren sie mir zu groß, nicht zu klein. Und der eine hatte vorne ein großes Loch in der Kappe. Aber mein Vater war mit dem was er gesehen hatte zufrieden und nahm die Schuhe erstmal wieder an sich.

Eine Luftaufnahme eines engen Stadtquartiers, mit vielen mehrstöckigen Gebäuden. Bei sehr vielen stehen nur noch die Außenmauern.
Du fragst dich vielleicht, wo all der Schutt in den Straßen herkommt? Die Häuser stehen doch scheinbar noch. Dieses Luftbild - es wurde in der Gegend von Berlin-Friedrichshain aufgenommen - zeigt eine der möglichen Erklärungen: Selbst wenn Fassaden und Außernmauern noch stehen, so ist doch im Inneren oft alles zerstört.
Wir waren so froh, dass es unser Haus nicht getroffen hatte.

Quelle: Wikimedia bzw. Imperial War Museums - Lizenz: IWM Non Commercial Licence

Nach ein paar Tagen kam er dann abends zu mir und zeigt sie mir. Ich war wirklich freudig überrascht, sie hatten sich völlig verändert. Sie waren jetzt mit viel schwarzer Schuhcreme geputzt, sahen deshalb sehr gut aus und das Loch in der Kappe war verschwunden. Wie hatte er das fertiggebracht? Ganz einfach. Er hatte aus einem der nicht benötigten Schuhe Lederstücke herausgeschnitten und mir auf jeden Schuh eine zusätzliche Kappe genäht. Das hatte er so gut gemacht, dass ich es erst gar nicht gesehen hatte.

Dann kam der nächste Morgen und damit der Weg in die Schule. Jetzt war die Freude über meine neuen Schuhe schon etwas getrübt. Ich war sicherlich nicht besonders eitel, aber als ein 16-jähriges Mädchen achtete ich schon ein wenig auf mein Aussehen. Musste ich mich nicht schämen, mit solch ungleichen Schuhen unterwegs zu sein? Aber es half nichts, es hieß diese oder die alten und ewig kalte, nasse Füße. Und gut sahen die auch nicht mehr aus. Aber auf dem Weg zur Schule merkte ich sehr schnell, dass kein Mensch auf meine Schuhe achtete. Auf der Straße nicht und in der Schule erst recht nicht, denn da war es eng und dunkel. Es gab ja selten Strom am Tag.

Sechs Frauen stehen in einem Halbkreis, man sieht nur ihre Füße auf dem staubigen Boden und den unteren Rand ihrer Kittelschürzen. Nur zwei von ihnen tragen geschlossene Schuhe, die anderen mehr oder weniger zerschlissene Sandalen oder Latschen. Nicht unbedingt zueinander passende.
Von meinen Schuhen habe ich leider kein Foto. Aber dieses Bild - es zeigt Trümmerfrauen 1947 in Berlin - macht glaube ich deutlich, dass wir bei Schuhen keine Wahl hatten. Hauptsache, man hatte irgend etwas an den Füßen.

Quelle: Wikimedia (Fotograf: Kolbe) bzw. Bundesarchiv - Bild 183-Z1218-313 - Lizenz: Share Alike 3.0 Germany

Als es kälter wurde merkte ich dann, dass die Schuhe sogar groß genug waren um darin meine dicksten Socken zu tragen. Und als es richtig eisig wurde, passte sogar noch eine Lage Zeitungspapier hinein. Ich liebte meine Schuhe und habe sie noch die nächsten vier Winter getragen.