DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Essen bleibt knapp

September 1945

An der Lebensmittelsituation änderte sich durch das Kriegsende nichts, vielleicht wurde es sogar noch etwas schlimmer. Lebensmittel gab es nach wie vor nur auf Karten und die Rationen waren sehr knapp bemessen. Jeder, der irgendwie die Möglichkeit dazu hatte, versuchte deshalb Lebensmittel auf irgendwelchen anderen Wegen zu ergattern, ohne Karte. Dazu gab es für die meisten Menschen vor allem zwei Möglichkeiten: Den Schwarzmarkt oder etwas direkt bei den Bauern kaufen. Beides war verboten, wurde aber natürlich trotzdem gemacht. Die Fahrt aufs Land, zu den Bauern, wurde 'Hamsterfahrt' genannt, das Kaufen bei den Bauern (besser gesagt: das Tauschen) an sich 'Hamstern'. Wobei ich das nie verstand: Es ging dabei doch nicht darum Vorräte anzulegen, wie ein Hamster, sondern jetzt direkt etwas zu Essen zu bekommen.

Ein amtliches rotes Papier mit verschiedenen Stempeln und handschriftlichen Eintragungen. Ringsherum sind offensichtlich verschiedene Stücke abgeschnitten worden.
Eine Brotkarte mit Lebensmittelkarte für Angestellte aus Berlin, vom Juni 1945. Alle Abschnitte wurden - natürlich - benutzt.

Quelle: Wikimedia (Fotograf: Mutter Erde) - Lizenz: Public Domain

Allerdings nahmen die Bauern kein Geld. Sie wollten Sachwerte, am liebsten Schmuck oder Edelmetall. Man konnte aber auch Glück haben und für ein Musikinstrument oder ein paar guter Schuhe etwas bekommen. Wer also noch irgendetwas durch den Krieg gerettet hatte, von dem er hoffen konnte es bei den Bauern einzutauschen, der fuhr damit aufs Land. Und wenn er Glück hatte, kam er mit ein paar Eiern, etwas Butter, einem Stück Speck oder einem Sack Kartoffeln zurück. Aber wie gesagt, es war verboten. Die Züge, die an Stationen im Umland gehalten hatten, wurden kontrolliert. Sicherlich nicht immer und nicht alle, aber wenn man Pech hatte, dann wurden die Lebensmittel beschlagnahmt.

In einem Bahnhof steht rechts ein völlig überfüllter Zug, die Menschen sitzen auf dem Dach und auf den Puffern. Links warten Menschen an einem Bahnsteig.
Ein Zug voller Menschen auf 'Hamsterfahrt', im Bahnhof Remagen (1947/48).

Quelle: Wikimedia (Fotograf: Oberhauser) bzw. Bundesarchiv, B 145 Bild-F080295-0002 - Lizenz: Share Alike 3.0 Germany

Meine Eltern sind nicht hamstern gefahren. Einerseits lag ihnen das wahrscheinlich nicht, aber wir hatten auch nichts woran Bauern Interesse hatten; zumindest nicht mehr. Denn wir waren zwar nicht ausgebombt, hatten nicht alles verloren, wie so viele andere. Aber aus Angst vor den Bomben hatte meine Mutter alles was irgendwie wertvoll war sicher verpackt und in den Keller gebracht: Kleidung, Schuhe, Bettwäsche, unser Tafelsilber und ihren Schmuck. Im Chaos der letzten Kriegstage wurden dann aber die Keller geplündert und jetzt war alles weg. Ich bekam das direkt bei meiner Ankunft in Berlin zu spüren. Als ich meinen Rucksack auspackte, besah sich meine Mutter die Sachen und meinte dann sehr lakonisch: So, das geht jetzt alles in drei Teile. Ich war schon bei meiner Konfirmation so groß wie meine Mutter und meine Schwester war inzwischen auch sehr gewachsen. Meine Unterwäsche passte ihnen auch. Wir hatten schon vorher nicht viel Kleidung, aber jetzt wurde es wirklich knapp.

Zwei Frauen stehen neben einigen Säcken mit Kartoffeln vor der offenen Tür eines Zuges, in den Menschen durch Fenster und Türen Säcke mit Kartoffeln hieven.
Frauen auf Hamsterfahrt, beim Einladen der ergatterten Kartoffeln im Bahnhof Gorgast (5.10.1948).

Quelle: Wikimedia (Fotograf: Walter Heilig) bzw. Bundesarchiv, Bild 183-S80285 - Lizenz: Share Alike 3.0 Germany

Auf diesen Wegen konnten wir uns also kein zusätzliches Essen beschaffen, aber wir hatten ja noch den Garten in Lichtenrade. Leider war der zwanzig Kilometer entfernt. Das war schon ein weiter Weg gewesen, als Berlin noch nicht in Trümmern lag. Jetzt war es eine Expedition ins Unbekannte. Aber als es dann Herbst wurde, beschloss mein Vater, dass er am nächsten Sonntagmorgen sehr zeitig losgehen würde. Er wollte - wenn möglich - die ersten Äpfel ernten und endlich mal wieder nach seiner Mutter sehen. Und er wollte den Weg nach Lichtenrade erkunden. Waren die Straßen frei? Fuhren vielleicht schon wieder Bahnen? Der Weg führte ja durch die Innenstadt und die war total zerstört. Dort befand man sich in einem riesigen Trümmerfeld, viele Straßen waren kaum passierbar und es gab nichts, woran man sich orientieren konnte. Mich nahm er mit.

Vor unserem Haus war eine Haltestelle der Straßenbahn, die nun schon jede halbe Stunde fuhr. Wir kamen also erstmal gut von zu Hause weg. Und es ging auch gut weiter, an der Reinickendorfer Straße konnten wir in die U-Bahn steigen, die Nord-Süd-Bahn, die bis nach Mariendorf ging, also den größten Teil des Weges nach Lichtenrade. Sie fuhr auch noch, jedoch nur bis zum Halleschen Tor. Dort endete sie, weil es einen Wassereinbruch im Tunnel gegeben hatte (das Hallesche Tor ist ja direkt an der Spree). Es dauerte übrigens noch sehr lange, bis wieder eine durchgehende Verbindung existierte.

Wir hofften, auf der anderen Seite der Spree vielleicht eine Straßenbahn zu sehen, schließlich ist das eine wichtige Nord-Süd-Verbindung. Es fuhr aber keine. Wir mussten also laufen. Das ging auch recht gut, aber nur die ersten fünf Kilometer, bis zum Ullsteinhaus. Dort war die Brücke über den Teltowkanal noch in den letzten Kriegstagen gesprengt worden und lag nun, in der Mitte zerbrochen, im Wasser. Es gab allerdings einen Notbehelf: Neben den Brückenteilen hatte man einen Ponton festgemacht. Man musste sich nun an den Eisenteilen der Brücke und provisorischen Seilen hinunter hangeln, über den schwankenden Ponton gehen und auf der anderen Seite auf die gleiche Art wieder hinauf. Puh. Geschafft. Das war aber anstrengend. Zum Glück war es das letzte größere Hindernis auf dem Weg zu meiner Oma. Das waren noch etwa sechs Kilometer.

Eine schmale Straße, gesäumt von hohen mehrstöckigen Häusern, alle stark beschädigt. In der Straßenmitte steht eine Straßenbahn, drumherum, davor und dahinter laufen viele Menschen, alle winterlich dunkel gekleidet. Die ganze Straße entlang stapelt sich vor den Häusern der Schutt. Im Vordergrund sind einige Frauen damit beschäftigt, ihn in bereitstehende Loren zu schaufeln.
Die Köthener Straße im März 1946. Sie liegt in der Nähe des Potsdamer Platzes, also sehr zentral in der Innenstadt. So - und noch schlimmer - kannst du dir große Teile unseres Weges durch die Mitte Berlins vorstellen.

Quelle: Wikimedia bzw. Bundesarchiv, Bild 183-H0616-0501-003 - Lizenz: Share Alike 3.0 Germany

Es war ein freudiges Wiedersehen mit meiner Oma. Es war ja mehrere Jahre her, dass wir uns gesehen hatten! Auch mein Vater war froh zu sehen, dass es ihr gut ging. Auch er hatte seine Mutter schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Leider konnten wir uns für unseren Aufenthalt bei ihr nicht allzu viel Zeit lassen. Wir wussten ja nun, wie lang und beschwerlich der Weg ist. Und um 19 Uhr war immer noch Sperrstunde. Da durfte niemand mehr auf der Straße sein. Wir sammelten also schnell das Fallobst auf, pflückten die ersten reifen Äpfel, packten alles so gut wie möglich ein und machten uns schon wieder auf den Rückweg.

Wir haben es vor der Sperrstunde nach Hause geschafft, aber der Übergang am Teltowkanal war schwierig. Auf dem Hinweg hatten wir die Hände frei und konnten uns an den Streben und Seilen festhalten. Jetzt hatten wir aber einen Rucksack auf dem Rücken (einen normalen, nicht meinen Selbstgenähten), und in jeder Hand einen Korb mit Äpfeln. Die Körbe hatten wir mit Papier abgedeckt und mit Schnur zugebunden, damit uns beim Klettern keine Äpfel herauskullern - wir wussten ja, was uns am Kanal bevorstand. Es war ein langer und beschwerlicher Weg und wir haben uns sehr gefreut, dass wir den letzten Teil dann mit der Straßenbahn fahren konnten. Und natürlich war es wunderbar, das Obst zu haben, mit dem meine Mutter unsere Mahlzeiten bereichern konnte.

Eine Brücke auf einer Balkenkonstruktion über einen Kanal, darauf eine Straßenbahn mit drei Wagen. Das Ufer fällt über gut zehn Meter sehr steil zum Wasser hin ab. Im Hintergrund sieht man ein großbürgerliches, vierstöckiges Eckgebäude.
Hier ist die Brücke über den Teltowkanal schon wieder behelfsmäßig repariert und sogar die Straßenbahn fährt wieder darüber. Man kann aber noch gut erkennen, wie steil das Ufer ist, an dem wir immer hinunter und wieder hinauf mussten.

Von da an bin ich einmal pro Woche in den Garten gegangen. Zumindest so lange, wie es noch Obst zu holen gab. Im nächsten Jahr konnte ich dann schon mit einem Fahrrad fahren. Mein Vater hatte aus vier alten Rädern zwei fahrtüchtige gebastelt. Manchmal sind wir zusammen gefahren, aber meist war ich allein unterwegs. Der behelfsmäßige Übergang am Teltowkanal, mit dem steilen Abstieg, bestand noch sehr lange. Allerdings wurde er später etwas zur Seite verlegt. Nun ging man schräg auf den Ponton zu, es war nicht mehr so steil. Doch mit dem Fahrrad hinunter, auf dem Gepäckträger einen Korb mit Obst oder Gemüse festgebunden und auf dem Rücken einen vollen Rucksack, das war immer eine aufregende Angelegenheit. Ich war jedes Mal in Sorge, dass mir alles ins Wasser fällt, aber das ist nie passiert.

Außer dem Garten hatten wir noch eine andere Quelle, aus der gelegentlich Lebensmittel flossen. Mein Vater arbeitete, da er ja seine Stelle bei der Post verloren hatte, bei einem Elektromeister. Wenn ihn seine Arbeit zu einem Schlachter führte, was immer mal wieder vorkam, dann kam er meist mit irgendwelchen besonderen Schätzen nach Hause, mit einer Tüte voller Knochen oder einem Blecheimer mit Fleischbrühe. Das war dann immer eine große Freude.

Aber dort arbeitete er nicht sehr lange. Irgendwann, ich weiß es nicht mehr genau, vielleicht im Frühjahr 1946, vielleicht auch schon eher, vielleicht aber auch später, konnten sich die von der Entnazifizierung Betroffenen um eine Verbesserung ihres Status bemühen. Dafür mussten sie bei der Entnazifzierungskommission vorsprechen. Das tat mein Vater und er wurde auch recht schnell entlastet. Das war vermutlich vor allem deshalb der Fall, weil er Fürsprecher hatte.

Um das zu erklären, muss ich einige Jahre zurückspringen, bis ins Jahr 1940, als wir ins Postamt zogen. Damals musste mein Vater immer in einem bestimmten Bereich um unser Haus herum in allen Wohnungen die Lebensmittelkarten verteilen. Ich glaube das hing mit der Dienstwohnung zusammen, weiß es aber nicht genau. Dabei begleitete ich ihn meist. Jedenfalls wohnten in einer der Wohnungen auch zwei junge Frauen, die immer sehr still waren, kaum den Kopf hoben und sich nur leise bedankten, wenn er ihnen ihre Karten gab. Er behandelte sie nicht anders als andere Hausbewohner, also mit einer ganz normalen Freundlichkeit. Mir fielen sie eigentlich nur auf, weil sie bei jedem Besuch so verschüchtert wirkten. Irgendwann hörte ich, dass sie Jüdinnen waren. Ich kannte zwar das Wort, konnte mir darunter aber eigentlich nichts vorstellen; ich war zehn.

Und diese beiden jungen Frauen, die Gottseidank die Nazizeit überlebt haben, ließen meinen Vater wissen, dass sie ihn zur Kommission begleiten und für ihn aussagen würden. Und das taten sie dann auch. Einige andere haben ihm Entlastungsschreiben geschrieben. Auf die befreiende Urkunde der Kommission musste er eine ganze Weile warten, aber als er sie endlich hatte, ging er damit zu seiner alten Arbeitsstelle und wurde wieder als Beamter im gleichen Dienstgrad eingestellt. Das war sehr schön, aber damit war dann leider auch die Zeit der Knochentüten vorbei.