DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,
während sämtliche anderen Geschichten dieses Blogs - egal ob sie als Gespräche, Briefe oder was auch immer daher kommen - genau das sind, Geschichten nämlich, sind die Texte dieser Rubrik etwas anderes. Es ist der Bericht meiner Mutter über ihre Erlebnisse der Kriegsjahre, rund fünfzig Jahre später aufgeschrieben, ausgelöst durch eine Bitte ihres Enkels.
Den Schwerpunkt dieser Berichte bilden zwei Aufenthalte in der Kinderlandverschickung in Luhatschowitz und in Kiritein (beide im heutigen Tschechien), sowie die abenteuerliche Rückkehr von dort, am Ende des Krieges.

Bei Beginn des Krieges, im September 1939, war meine Mutter neun Jahre alt. Die ersten Teile dieses Textes wurden 1995 verfasst und im Laufe der nächsten Jahre fügte sie ihm immer mehr Notizen hinzu. Irgendwann verstaute sie die Schreibmaschine aber wieder im Schrank, das Thema war erstmal beendet. Etwas später aber, im Frühjahr 1999, bekam sie, wie jedes Jahr, den Katalog der Heimvolkshochschule. Ihr Blick fiel auf einen neuen Kurs, er hieß 'Wie schreibe ich meine Geschichte?'. Sie meldete sich sofort an. Der erste Teil des Kurses fand an einem Wochenende im April statt, der zweite im Oktober.

Ein junges Mädchen sitzt an einem alten Schultisch, in der Hand einen Stift, vor sich ein geöffnetes Heft und schaut aufmerksam lächelnd in die Kamera.
Die Autorin als Sechsjährige in der Schule

Nach dem ersten Wochenende holte sie direkt ihre Notizen heraus und begann, sie in eine zusammenhängende Geschichte zu verwandeln. Aber etwas hatte sich verändert: Es gab jetzt Computer. Der Nutzen leuchtete ihr unmittelbar ein und so beschloss sie, mit 70 Jahren, sich ihren ersten PC zuzulegen (Gauslchen 1) und den verhängnisvollen Schritt von der Schreibmaschine hin zur Textverarbeitung zu machen. Immer weitere Erinnerungen wurden aufgeschrieben, alte Fotos und Briefe wurden gescannt und schließlich war es so viel geworden, dass sie es als Buch binden ließ, eines für jedes Familienmitglied. Zum zweiten Kursteil, im Oktober, erschien sie also bereits mit einem fertigen Buch.

Erwähnen möchte ich noch, dass ihr Text den Titel 'Meine Geschichte' trägt. Und so hat sie sich auch bemüht ihn zu schreiben: Aus Sicht des jungen Mädchens von damals, ohne späteres Wissen einfließen zu lassen. Und so halten wir es auch in dieser 'Neuauflage'; jedenfalls meistens.

Dem ersten PC sollten übrigens noch drei weitere folgen, für die sich auch vielfältige und immer neue Beschäftigungen fanden. So nahm sie z.B. ihrem fernseherlosen Sohn gerne etwas auf (zuerst auf VHS, später digital), befreite es von der Werbung, brannte alles auf DVD und schickte es ihm - selbstverständlich jede DVD mit selbstgestaltetem Einleger.
Jetzt haben wir das Jahr 2023 und Gauslchen 4 hat zu ihrem großen Bedauern nichts mehr zu tun, altersbedingte Makuladegeneration hat die Sehkraft meiner Mutter extrem beeinträchtigt. Aber irgendwann kam sie auf die Idee, dass ihre Geschichte doch eigentlich gut neben meinen in diesem Blog erscheinen könnte. Eine großartige Idee! Warum komme ich nicht auf so was?

Gesagt, getan. Auf Grundlage des Buches erscheinen hier also nach und nach ihre Erinnerungen. Sie erscheinen nicht alle auf einmal, weil ich die Gelegenheit nutze und an vielen Stellen nachfrage. Es sind Stellen, die ihr kaum oder gar nicht erwähnenswert erschienen. Leider merke ich erst jetzt, beim nochmaligen Lesen mehr als zwanzig Jahre später, dass sich hinter zahlreichen kleinen Bemerkungen, meist nur Nebensätzen, ganze Geschichten verbergen können. Oft blieben auch Dinge - bewusst oder unbewusst - unerwähnt, die eigentlich von Bedeutung wären oder, zumindest nach meiner Einschätzung, sein müssten. Hier frage ich also nach. Und dann ergibt sich eine weitere Information, ein weiteres Mosaiksteinchen in dem Bild, wie sie diese Zeit erlebt hat.

Zum Beispiel erwähnt sie mit keinem Wort die Aufenthalte in Luftschutzkellern und -bunkern. Weist nur darauf hin, dass es diese Räume gab und dass man sie bei Alarm aufsuchen musste. Auf meine Frage, warum sie nichts davon schreibt, wie es ihr dabei ging, antwortet sie: Es ging doch allen gleich. Mit anderen Worten: Es ist nicht erwähnenswert, weil es nichts besonderes war (so zumindest meine Deutung).

Noch ein Beispiel: Zum Wechsel in die Oberschule schreibt sie kaum mehr, als dass dieser für sie einen weiteren Schulweg bedeutete. Im Gespräch ergibt sich dann (u.a.) die Information, dass auch der Weg zur Volksschule schon weit war. So weit immerhin, dass sie zur Einschulung damals ein Fahrrad bekommen hatte, weil ihre Eltern die Strecke als zu lang einschätzten, als das eine Sechsjährige sie hätte laufen sollen. Aus Sicht heutiger Eltern ist das ein interessantes Detail, vermute ich zumindest.

Ich erzähle das hier so ausführlich um deutlich zu machen, von welcher Art die Erweiterungen sind, die sich durch die nachträglichen Gespräche ergeben.

Vielleicht noch kurz zur Vorgehensweise: Meist ergeben sich für mich auf jeder Seite mehrere Fragen. Die stelle ich dann (im Telefongespräch) meiner Mutter. Dazu wird ihr in der Regel schon das eine oder andere einfallen. Oft ergeben sich aus dem Erzählten dann auch gleich wieder die nächsten Fragen. All das notiere ich mir. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass es ein bisschen 'sacken' muss. Am nächsten oder übernächsten Tag berichtet sie mir häufig Dinge, die ihr plötzlich eingefallen sind, an die sie Jahrzehnte nicht mehr gedacht hat. Denn lieber Leser, bedenke: All das ist gut 80 Jahre her!
Wenn alles für mich so weit rund ist, erweitere ich ihren Ursprungstext entsprechend, lese ihr das Ganze vor und wenn sie mit dem Ergebnis einverstanden ist, geht der Text online. Gelegentlich füge ich noch Links zu passenden Informationsseiten ein, idR zur Wikipedia und manchmal finde ich auch hilfreiche Bilder.

All das beschert mir lange tägliche Gespräche mit meiner Mutter und gibt ihr etwas Interessantes zu tun. Denn wenn man kaum noch etwas sieht, werden die Beschäftigungsmöglichkeiten rar. Tatsächlich stellt es sogar eine Aufgabe für sie dar, eine Herausforderung, da sie nie die Neigung hatte von früher zu erzählen. Früher dachte ich immer, alte Leute redeten nur von der Vergangenheit. Und für viele trifft das sicher auch zu, für meine Mutter nicht.

Übrigens hat der Enkel, der durch seine Schulaufgabe das alles veranlasste, mittlerweile selbst einen Sohn, er kommt diesen Herbst in die Schule.
Welche Fragen er wohl an seine Großeltern haben wird?
Vielleicht werden sie mit dem Wachstumswahn zu tun haben, den wir für lebensnotwendig halten.

Mit ein bisschen Glück werden wir es erleben.