DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Siedlungsgebiete - Basics 4

Wir sind ein wenig davon abgekommen“, sage ich, „aber hattest du nicht gemeint, der Virus könnte uns daran erinnern, dass wir Säugetiere sind? Ich finde das zwar sonderbar den Menschen so zu sehen, aber andererseits ... wie soll ich sagen ... ist das doch irgendwie auch selbstverständlich, oder?“

„Schön, dass du es selbstverständlich findest. Ich wollte darauf hinaus, das wir biologisch nichts Besonderes sind. Nicht die Krone der Schöpfung, sondern einfach ein weiteres Säugetier. Es wäre nämlich viel gewonnen, wenn wir uns wieder als Teil dieses Systems begreifen würden, das wir Natur nennen.“

„Verstehe ich nicht“, sage ich. „Wir sind doch in jedem Fall Teil der Natur, ob wir das nun so sehen oder nicht – wir leben schließlich hier. Aber wir sind eben ein Teil mit etwas mehr – wie soll ich sagen … Einfluss.“

Er lacht. „Mehr Einfluss ist gut. Der Einfluss, den ein Elefant im Porzellanladen hat. Wir glauben uns alles erlauben zu können; glauben, dass uns unsere Technik völlig unabhängig macht.“

‚Tut sie ja auch‘, denke ich.

„Und da kommt nun dieser Virus“, fährt mein Nachbar fröhlich fort. „Dem es egal ist, dass Menschen großartige Musik komponieren, zum Mond fliegen und Smartphones bauen. Er schaut, ob wir Säugetiere mit geeigneten Schleimhäuten sind. Wenn ja, lässt er sich auf uns nieder und vermehrt sich. Er hat sozusagen einen ganz unverstellten Blick auf uns, sieht uns als das, was wir sind.“

„Das ist ja irgendwie ernüchternd“, sage ich, „als Neubaugebiet eines Virus bezeichnet zu werden“.

„Tja“, sagt mein Nachbar, „genaugenommen sind es eben nicht wir, die diesen schönen Planeten besiedeln. Das vergessen wir gerne“.

„Nicht?“, sage ich verblüfft, „Wer denn dann?“

„Die Mikroorganismen“, sagt er schlicht. „Also ganz allgemein gesprochen: All das kleine Kroppzeug, das zu winzig ist, um es mit bloßem Auge zu sehen.“

„Das ist ja nu Quatsch“, sage ich und zeige auf unsere Häuser, „offensichtlich siedeln wir hier“.

Er grinst. „Ja, aber wir sind wiederum von Mikroorganismen besiedelt, genauso wie alles um uns herum. In jedem Menschen und jedem Tier leben Milliarden und Milliarden Bakterien, Pilze und Viren. Im menschlichen Darm, in JEDEM menschlichen Darm, leben fast vierzig Billionen Mikroorganismen, das sind vierzigtausend Milliarden!“

„Das ist ja `n Ding“, sage ich. „Aber sollte man da nicht was gegen tun?“

„Das wäre wohl nicht so einfach“, sagt er, „und würde unweigerlich zu deinem Tod führen. Die sind da schon ganz richtig. Und ganz allgemein: ohne Mikroorganismen gäbe es überhaupt kein höheres Leben auf diesem Planeten. Sie sind es, die den Laden eigentlich am Laufen halten.“

„Na, wenn du meinst“, sage ich. „Und es gibt von ihnen wirklich mehr als von uns?“

„Du hast mir nicht zugehört“, sagt er. „In dir, in mir, in jedem Menschen leben zigtausend mal mehr Mikroorganismen als es Menschen auf der Erde gibt. Mehr ist also wirklich kein passender Maßstab. Aber sie sind, obwohl sie so winzig sind, auch massenmäßig deutlich mehr. Man schätzt, dass mindestens zwei Drittel der Biomasse auf der Erde auf die Mikroorganismen entfallen. Der Mensch fällt da also kaum ins Gewicht. Ich habe mal gelesen, dass sogar die Ameisen mehr auf die Waage bringen als wir.“

„Du baust mich heute nicht gerade auf“, sage ich kopfschüttelnd. „Aber trotzdem sind wir es, die hier das sagen haben“, trumpfe ich auf.

„Du meinst“, fragt mein Nachbar, „wegen unserer Fähigkeiten, unserer Technik und so?“

Ich nicke.

Er überlegt kurz und sagt dann: „Hast du von der USS …“, er zögert …

„Enterprise?“, frage ich schnell. „Dem Raumschiff?“

„Nein“, sagt er, „ich glaube, das Schiff heißt ‚USS Theodore Roosevelt‘, ein atomgetriebener Flugzeugträger der US Navy – hast du davon gehört?“

Ich schüttle den Kopf.

„Da stand gerade in der Zeitung, dass der Captain darum gebeten hat, sein Schiff evakuieren zu dürfen, weil viele seiner Leute mit Corona infiziert seien.“ Er grinst.

„Was ist daran so lustig“, frage ich.

„Na, die Amis sind ziemlich stolz auf ihre Flotte, vor allem auf die Flugzeugträger. Das ist so ungefähr das ultimative Waffensystem, für jeden Gegner eine fürchterliche Bedrohung. Ein riesiges Ding, fünftausend Mann Besatzung. Und jetzt wird einer außer Gefecht gesetzt, von etwas, das man überhaupt nur sehen kann, wenn man sehr spezielle Mikroskope hat. Ich finde das witzig.“ Er hält kurz inne, „vor allem aber auch, weil die USA einen besonders kräftigen Tritt brauchen, um mal aufzuwachen und zu bemerken, dass sie auf einem Irrweg sind.“

„Irrweg?“, frage ich, „inwiefern?“.

„Ach“, seufzt er, „aus vielerlei Gründen. Aber momentan, ganz banal, weil sie eigenartige Prioritäten setzen. Das amerikanische Militär ist bis an die Zähne bewaffnet – u.a. eben mit diversen Flugzeugträgern. Wenn die USA irgendwo einfallen wollen, brauchen sie sich nicht groß vorbereiten, sie können einfach losgehen. Ist alles da.“ Er macht eine Pause. „Aber jetzt sterben ihre Ärzte und Pfleger, weil sie zu wenig Schutzhandschuhe und Masken haben; Pfennigartikel. Hat man sich gespart, die auf Reserve zu haben. Wenn das kein Irrsinn ist, dann weiß ich auch nicht.“

„Verrückt“, sage ich. „Aber klein-klein war doch noch nie amerikanisch, oder?“

„Stimmt“, sagt mein Nachbar.

„Und so werden jetzt die Schleimhautträger zu Virenträgern“ , sage ich nachdenklich, „trotz ihrer Flugzeugträger“.