Sucker
„Sag mal“, frage ich meinen Nachbarn, „sollen wir nachher zusammen das Laub auffegen?“
Er sieht mich ganz merkwürdig an und sagt mit hochgezogenen Augenbrauen: „Wie käme ich denn dazu?“
Ich bin verwirrt. Seit Jahr und Tag machen wir das zusammen. Bei ihm stehen nämlich lauter riesige Laubbäume, deren Blätter aber zu einem großen Teil bei uns runterkommen; in unseren Garten und auf unseren Teil der Straße. Sicher, streng genommen ist das meine Aufgabe, aber wir haben es eben immer gemeinsam gemacht. Das aufgesammelte Laub haben wir dann auch immer in seinem Garten aufgehäuft, er hat genug Platz dafür und lässt es kompostieren.
„Na“, sage ich etwas hilflos, „so wie wir es doch immer machen …“.
„Hmm“, brummt er mürrisch, „mag sein, dass ich mich in der Vergangenheit da manchmal drauf eingelassen habe. Ich bin eben immer zu gutmütig. Aber damit ist jetzt Schluss! Feg dein Laub mal schön alleine.“
„Na gut“, sage ich, „wie du meinst. Soll ich das Laub dann an die gleiche Stelle wie immer bringen?“
„Du meinst, in meinen Garten?“ Er zieht schon wieder die Brauen hoch.
„Natürlich in deinen Garten.“ So langsam werde ich auch ungeduldig.
Er schüttelt vehement den Kopf, „kommt überhaupt nicht in Frage. Das kannst du schön in Säcke packen und abholen lassen, so wie jeder andere auch.“
Ich atme einmal tief durch. Für sein verdammtes Laub soll ich jetzt also teure Laubsäcke kaufen? Ich brauche mindestens zwanzig, wahrscheinlich noch mehr. Ich bin wütend. Aber viel schlimmer ist, dass ich furchtbar verunsichert bin. Bis eben dachte ich, dass ich den besten Nachbarn der Welt habe. Einen wirklichen Freund, mit dem ich zwar meist nicht einer Meinung bin, auf den aber immer Verlass ist und mit dem ich nie echten Streit hatte.
‚Okay‘, denke ich, ‚wahrscheinlich hat er einen schlechten Tag. Vielleicht ist was mit seiner Frau. Das wird schon wieder.‘ Aber irgendwie bin ich nicht überzeugt von dem, was ich mir da einrede. Das Ganze fühlt sich schrecklich an. Schrecklich endgültig. Und schrecklich falsch. Und plötzlich werde ich wütend und denke: ‚Na gut, wenn du es so haben willst – das kannst du kriegen! Ich freue mich schon drauf, wenn du das nächste Mal was von mir brauchst. Das kannst du aber sowas von vergessen!‘; spreche es aber nicht aus.
Ich atme noch einmal tief durch und sage: „Okay. Ich verstehe zwar nicht, was plötzlich in dich gefahren ist, aber wenn du es so haben willst …“.
„Ja“, schnappt er, „will ich. Schließlich ist das ja gesetzlich geregelt, wie mit dem Laub zu verfahren ist. Wenn wir es anders machen, ist das doch nur zu meinem Nachteil. Sehe ich überhaupt nicht ein.“ Er sieht mich herausfordernd an.
Mir geht allesmögliche durch den Kopf, was ich ihm jetzt sagen könnte, aber ich will nicht. Ich will hier nur weg. Ich merke, wie ich schon wieder tief durchatme, sage nur: „Okay“ und wende mich ab, um zum Haus zu gehen.
Ich bin gerade zwei Schritte gegangen, da höre ich: „Entschuldige bitte, mein Lieber!“ Es ist mein Nachbar und es ist wieder der vertraute, freundliche, etwas brummige Tonfall, den ich so gut kenne.
Ich drehe mich zu ihm, lege den Kopf schief und sehe ihn fragend an.
„Ich hätte das nicht tun dürfen“, sagt er. „Das fühlt sich ja schrecklich an.“
Ich runzle die Stirn, „du hättest was nicht tun dürfen?“.
„Komm doch bitte erst mal wieder her“, sagt er. Er sagt es fast bettelnd.
Widerstrebend gehe ich zurück.
„Also zuerst mal das Wichtigste: Ich hab das eben nicht ernst gemeint. Das war ein Versuch.“
„Ein Versuch“, sage ich verständnislos, „was für ein Versuch?“.
„Ich habe heute Morgen einen Artikel gelesen, der mich total beschäftigt hat. Und dann kamst du mit deiner Frage und ich habe spontan beschlossen, das mal auszuprobieren. Aber ich glaube, es war eine Schnapsidee.“ Er sieht ziemlich niedergeschlagen aus.
„Ich verstehe immer noch kein Wort“, sage ich. „Was denn für ein Artikel?“
„Du weißt doch, dass in den USA gerade der Vorwahlkampf der Demokraten um die Präsidentschaftskandidatur stattfindet?“
„Ja“, sage ich, „du erzählst es mir ja oft genug“.
„Du hörst mir also tatsächlich zu?“, sagt er feixend, „hätte ich gar nicht mit gerechnet“. Er grinst.
Sonderbarer Weise fühle ich mich plötzlich wieder gut. Ich verstehe zwar immer noch nicht, was mein alter Freund da gerade getrieben hat, aber es ist alles in Ordnung. Er ist immer noch der Alte.
„Manchmal drücke ich das Ohropax nicht richtig fest, dann kommt ein bisschen was durch“, sage ich und zucke übertrieben die Schultern.
Er nickt grinsend. „Ich mach’s kurz. Also“, er hält kurz inne um zu überlegen, „momentan sieht es so aus, als würde jemand mit recht extremen Vorstellungen die meisten Stimmen bekommen. Aus deutscher Sicht könnte man ihn als Sozialdemokraten betrachten, der die Tradition seiner Partei ernstnimmt, aus US-Sicht ist er ein Revolutionär. Die Republikaner behaupten, ‚wenn er Präsident wird, stürzt das Land ins Chaos‘. Ich habe eine Fernsehmoderatorin tatsächlich von Armageddon reden hören. Aber auch das Establishment der Demokraten will ihn eigentlich nicht. Er ist ihnen zu radikal und sie fürchten, dass er auch vielen Wählern zu radikal ist. Das Dumme ist, dass er unglaubliche Zustimmungswerte hat, vor allem bei den jungen.“
„Und was hat das mit deinem Versuch zu tun?“, frage ich.
„Moment noch“, sagt er. „Das ist nur die Grundlage für den Artikel.“
„Ich denke du machst es kurz?“, sage ich, meine es aber nicht ernst.
„Also“, sagt mein Nachbar, „der Autor zieht folgenden Schluss: Bernie Sanders, der Kandidat, genießt genau deshalb so große Zustimmung, weil die Leute die Schnauze voll haben von Leuten, die immer einen Mittelweg suchen, die Kompromisse eingehen. Bernie macht keine Kompromisse.“
„Er ist also genauso ein Haudrauf wie Trump?“, frage ich.
„Überhaupt nicht“, sagt er. „Bernie ist wirklich gut. Und er ist glaubwürdig. Er ist 78 und erzählt seit Jahrzehnten das gleiche.“
„Aber mir geht es um das Thema Kompromissbereitschaft. Der Autor schrieb nämlich, dass seit Obamas Präsidentschaft der Politikstil in Washington ein anderer geworden ist. Bis dahin war alles halbwegs normal, man wusste, dass man irgendwie Lösungen finden musste und ist von der eigenen Position auch mal abgerückt, ist dem anderen entgegengekommen und der hat das dafür genauso gemacht.“
„So geht Politik, habe ich immer gedacht“, sage ich.
„Ja, tut sie im Normalfall auch“, sagt er. „Aber damit war eben plötzlich Schluss. Die Demokraten waren immer noch zu Kompromissen bereit und haben des Öfteren eingelenkt, aber die Republikaner haben keinen Millimeter mehr nachgegeben und nur noch gemauert. Kompromissbereitschaft und die Bereitschaft auf den anderen zuzugehen, haben sich plötzlich nicht mehr ausgezahlt. Und die Demokraten waren die Sucker, die Trottel, die sich immer wieder über den Tisch ziehen ließen.“
So langsam bekomme ich eine Ahnung davon, worum es da vorhin ging.
„Tja, dieser Autor ist nun der Meinung, dass das den Wählern klar geworden ist. Und sie deshalb jemanden mit einer knallharten Position bevorzugen, dem sie zutrauen, dass er sie auch durchsetzt.“
„Ach so, ich verstehe, du wolltest jetzt auch mal knallhart sein“, sage ich.
„Nee“, sagt mein Nachbar, „ganz so einfach ist es nicht. Mich hat das an ein Thema erinnert, dass mich schon eine ganze Weile beschäftigt“.
„Warum sich manche Leute immer zum Trottel machen?“
„Nein“, sagt er, „warum vernünftiges Verhalten so oft nicht funktioniert.“
„Sag ich doch“, sage ich.
Er lacht. „Pass auf“, sagt er, „ich bin ja eher der Trottel-Typ. Immer kompromissbereit, verständnisvoll und bereit, auch mal zurückzustecken. Ich halte das auch für richtig, versteh mich nicht falsch, aber ich hab mehr und mehr den Eindruck, dass es da draußen ziemlich viele Leute gibt, die völlig anders vorgehen. Denen Vernunftgründe völlig schnuppe sind, die einfach nur ihr Ding durchziehen wollen, egal wie.“
„Ja“, sage ich, „da kenne ich auch ein paar von“.
„Und weißt du was mich total fertigmacht?“, fragt er.
Ich schüttle den Kopf.
„Ich habe immer gedacht, alle Menschen wären mehr oder weniger so wie ich.“ Er sieht wie ich grinse und ansetze etwas zu sagen und fährt schnell fort: „Jetzt keine blöden Witze bitte. Ich meine damit, dass ich dachte, alle Menschen wären vernünftig. Dass man mit jedem über alles reden könnte. Dass es den Leuten um die Sache geht und dass sie, wenn man ihnen rationale Argumente für oder gegen etwas liefert, bereit sind ihre Ansicht zu ändern – oder zumindest in Frage zu stellen.“ Er schaut mich an.
„Das hast du wirklich geglaubt?“ Ich schüttle ungläubig den Kopf.
„Quatsch, oder? Wo ich doch dich kenne …“. Er lächelt wehmütig. „Na ja, jedenfalls komme ich erst jetzt, so nach und nach drauf, dass das überhaupt nicht stimmt. Tatsächlich scheint es mir eher die Ausnahme zu sein, wenn Menschen bereit sind die eigene Sicht auf die Dinge in Frage zu stellen. Aber dieser Gedanke ist für mich so fremd, so absonderlich, dass ich es immer wieder vergesse.“
Er tut mir leid, wie er da so verloren steht. Ich kann sein Problem überhaupt nicht begreifen, weiß aber, dass er es völlig ernst meint.
„Hmm, verstehe“, sage ich. „Aber ich verstehe nicht, was das mit unserem Laub und der amerikanischen Politik zu tun hat.“
„Nix“, sagt er. „Mich hat einfach dieser Artikel so getriggert. Da hat die Politik jahrzehntelang halbwegs vernünftig funktioniert, beide Seiten haben zwar verschiedene Grundeinstellungen, haben im Interesse des Landes aber immer mal wieder Zugeständnisse gemacht. Sie haben sich – mehr oder weniger – vernünftig verhalten. Es ging um die Sache und nicht um das Beharren auf dem eigenen Standpunkt um jeden Preis. Und solange beide Seiten das so machen, funktioniert es auch.“
Ich nicke.
„Plötzlich ändert aber eine der beiden Parteien ihr Verhalten. Und ist damit, obwohl sie nicht an der Regierung ist, erfolgreich. Zumindest aus ihrer Sicht, weil sie ihre Position durchsetzt. Tatsächlich hat ihr Verhalten für Millionen Amerikaner eklatante Nachteile und verstärkt sowieso vorhandene Spannungen in der Gesellschaft. Für mich ist so ein Verhalten zutiefst verstörend“, er schüttelt den Kopf. „Nun hat die amerikanische Politik nichts mit mir zu tun, jedenfalls nicht direkt. Aber dass Leute ihre Meinung oder ihren kurzfristigen Vorteil über alles andere stellen, das gibt es natürlich an jeder Ecke.“
„Na klar“, sage ich, „das ist ganz normal. So läuft die Welt.“
„Ja“, sagt er, „so läuft das. Aber ich musste erst ganz schön alt werden, um das zu merken.“
„Ja“, sage ich, „ein alter Sack. Hast du doch sogar auf dein Schild geschrieben.“
„Stimmt“, grinst er. „Na ja, wie auch immer, mir ist und bleibt das völlig fremd. Aber als du vorhin mit dem Laub kamst, dachte ich: ‚Okay, ich probiere das jetzt mal aus. Es ist sein Laub, ich habe damit nichts zu schaffen. Soll er sich drum kümmern. Ich will auch mal unvernünftig sein. Und ich will nicht fegen, sondern mein Buch lesen und Kuchen essen.‘ Und dann habe ich das durchgezogen.“
„Es war furchtbar“, sage ich . „Ich habe überhaupt nicht verstanden was los ist. Und als ich merkte, dass du es ernst meinst, habe ich überlegt, wie ich es dir heimzahlen kann. Ich sah mich schon im Dauerstress mit dir leben. Es war wie ein Albtraum.“ Ich schüttle den Kopf, wie um die Erinnerung abzuschütteln.
„Du musst nicht glauben, dass es mir Spaß gemacht hat“, er schüttelt ebenfalls den Kopf. „Allerdings war es als Experiment durchaus erfolgreich.“
„Wieso?“, frage ich.
„Na ja, es ging uns in der Situation beiden schlecht. Und etwas, was normaler Weise eine kurzweilige, wenige Stunden dauernde Beschäftigung gewesen wäre, hätte zu einem Quell langanhaltender Streitereien werden können. Du hättest es mir bei nächster Gelegenheit heimgezahlt, daraufhin hätte ich irgendwas gefunden um dich wieder zu ärgern und immer so weiter. Unsere Nachbarschaft hätte sich zu einem Kriegsgebiet entwickelt.“
„Ja“ sage ich, „das wäre ja ein schöner Erfolg“. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso er plötzlich wieder so guter Dinge ist.
„Na klar“, sagt er. „Das zeigt doch wie sinnvoll es ist, aufeinander zuzugehen, etwas für den anderen zu tun, das man eigentlich nicht tun müsste, nachzugeben, zu kooperieren, und und und … Nicht nur den eigenen Vorteil zu suchen. Oder?“
„So gesehen“, sage ich, „aber das hätte ich dir auch vorher sagen können. Aber mal was ganz anderes, du hast da vorhin was von Kuchen gesagt, den du essen wolltest … Was ist denn das für Kuchen?“
Er kneift Augen und Lippen zusammen und sieht mich finster an, „das ist jetzt wirklich nicht fair von dir“.
Ich grinse und finde, dass er zwar recht hat, dass mir das aber jetzt mal egal ist.