Schuldenlast - Geldprobleme 4
„Jetzt hast du mich mit deinen Sorgen auch noch angesteckt“, beklage ich mich bei meinem Nachbarn.
Er schaut mich zweifelnd, aber auch erfreut an. „Du machst dir Sorgen wegen des Klimas?“, fragt er.
„Quatsch“, sage ich. „Es ist Mitte August, wir haben gerade mal 25 Grad und gestern hat es den halben Tag lang geregnet. Vor mir aus könnte es ruhig ein bisschen wärmer sein.“
Seine Schultern sinken herab und er sieht mich wieder mit diesem traurig-verzweifelten Blick an, deshalb fahre ich schnell fort: „Nein, mit deinen Geldsorgen meine ich“.
„Ich habe keine Geldsorgen“, sagt er stirnrunzelnd um dann anzufügen: „Oder meinst du mein mangelndes für Verständnis für Geld?“
„Das meine ich“, sage ich. „Du machst dir Gedanken um große Geldfragen und fragst dich, wo das alles hinführen soll – und das mache ich jetzt auch.“
„Aha?“, sagt mein Nachbar, nun doch interessiert. „Was denn genau?“
„Na, wir machen wegen Corona Schulden ohne Ende, dabei bricht unsere Wirtschaft zusammen. Das Brutto … Brutto …, na du weißt schon, das Dingsdaprodukt ist in den Keller gefallen, ..“.
„Das Bruttoinlandsprodukt“, fragt mein Nachbar, „das BIP?“.
„Genau“, sage ich. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, als es Anfang des Jahres hieß, es würde überhaupt nicht oder nur ganz gering steigen. Aber jetzt ist es ja um … ich glaube über zehn Prozent gefallen. Das ist doch dramatisch!“
„Ja“, nickt mein Nachbar, „jetzt ist es vorbei. Wir werden alle sterben“.
„Na, so schlimm ist es ja vielleicht doch noch nicht“, sage ich erschrocken.
„Das war ein Witz“, sagt er.
„Nicht witzig“, sage ich.
„Du hast doch damit angefangen“, sagt er. „Die Welt steckt in einer Pandemie, wir haben ein nie dagewesenes Artensterben, die menschliche Zivilisation ist durch die Klimakatastrophe ernsthaft bedroht … und du stehst gesund und munter im Garten deines Hauses, in einem der reichsten Länder der Welt und machst dir Sorgen wegen einiger Wirtschaftszahlen? Guter Witz.“
„Aber genau mit diesem Reichtum kann es doch auch ganz schnell vorbei sein“, sage ich. „Wenn das Wirtschaftswachstum zusammenbricht, geht doch hier alles den Bach runter. Dazu diese neuen Wahnsinnsschulden …“, ich schüttle den Kopf. Ich mache mir wirklich Sorgen. Und es hilft mir überhaupt nicht, dass er mich mit so einer Mischung aus Mitleid und Verständnislosigkeit ansieht.
„Du meinst also“, sagt er schließlich, „dass die Wirtschaft immer wachsen sollte?“.
„Na, da geht’s doch immer drum“, sage ich. „Alle paar Monate sagen sie in den Nachrichten, ob es nun soviel wie erwartet nach oben geht oder doch weniger … Und außerdem ist das so ungefähr die einzige Wirtschaftskennzahl die mir regelmäßig begegnet, also wird sie wohl wichtig sein. Ist doch auch einleuchtend: Wenn’s uns besser gehen soll, muss sich die Wirtschaft wohl positiv entwickeln – also ansteigen.“
Mein Nachbar lächelt.
„Spuck‘s aus“, sage ich.
Er überlegt. „Ich lass das Offensichtliche mal weg: Nämlich ob’s uns denn tatsächlich immer besser geht. Und ich frage auch nicht, ob irgendwas endlos wachsen kann. Nee“, sagt er, „mache ich nicht“. Er schüttelt den Kopf und fährt dann fort: „Aber unsere Wirtschaft ist doch auf einem ziemlich hohen Niveau, meinst du nicht, dass man das vielleicht gar nicht mehr unbedingt steigern muss?“.
„Weiß nicht“, sage ich, „mehr ist halt immer besser“.
Er grinst. „Dazu fällt mir was ein: Erinnerst du dich, als dir deine Kollegen zum Jubiläum diese Fahrt im Rennwagen geschenkt haben?“
Ich habe sofort wieder ein vertrautes, mulmiges Gefühl im Magen. „Hör bloß auf“, sage ich, „das werde ich mein Lebtag nicht vergessen“.
„Da war das doch so, dass der Fahrer aus dem Stand wie verrückt beschleunigt hat und dir dann bei 280 Sachen sagte, dass er leider nicht schneller fahren darf. Eigentlich wäre noch deutlich mehr drin, aber mit Gästen dürfen sie das nicht.“
Ich nicke.
Mein Nachbar grinst. „Und du warst da total froh drüber, weil’s dir eigentlich sowieso schon zu schnell war.“
„Die Geschwindigkeit war das Eine, aber der Irre hat ja die ganze Zeit nur beschleunigt. Du glaubst nicht, was das mit dir macht, du wirst in den Sitz gepresst und es wird immer schneller … und schneller … und noch schneller. Mir war kotzübel.“ Meine Kollegen hatten es nett gemeint, weil ich immer gerne Formel 1 geschaut habe, aber mir wird schon bei der Erinnerung schlecht.
„Aber wie kommst du jetzt darauf?“, frage ich.
„Na ja“, sagt er, „Beschleunigung und Wachstum sind ja mehr oder weniger das Gleiche. Beschleunigung ist die Steigerung der Geschwindigkeit und das Wirtschaftswachstum ist die Steigerung der Wirtschaftsleistung.“
„Aha“, sage ich.
„Ja“, sagt er. „Und so wie man im Auto irgendwann sagt: ‚So, Reisegeschwindigkeit erreicht, die behalten wir jetzt bei‘. So könnte man doch auch sagen: ‚Wir haben jetzt eine gesunde, stabile Wirtschaftsleistung, die behalten wir bei.‘ Oder?“. Er sieht mich an.
„Hmm, aber wird denn die Wirtschaft nicht irgendwie schwächer, wenn sie nicht mehr ansteigt?“
„Es gibt immer drei Möglichkeiten wie sich etwas entwickeln kann“, sagt er geduldig, „es kann mehr werden, weniger oder es kann bleiben wie es ist. Und mein Vorschlag war, die Wirtschaftsleistung nicht um jeden Preis steigern zu wollen, sondern sie auf einem gut funktionierenden Level zu halten.“
„Klingt jetzt erstmal gar nicht sooo doof“, sage ich. „Da werde ich mal drüber nachdenken.“ Ich überlege, da war doch noch was. „Aber was ist mit den Schulden?“, fällt mir schließlich ein. „Um diesen Riesenhaufen Schulden zu bezahlen, muss die Wirtschaft doch noch viel mehr wachsen als bisher. Das muss ja irgendwoher kommen.“
Mein Nachbar seufzt. „Ich mach’s kurz: Staatsschulden werden nicht zurückgezahlt.“
„Wie, werden nicht zurückgezahlt?“. Ich bin verwirrt. „Das ist doch Quatsch, natürlich werden die zurückgezahlt. Es ist die totale Ausnahme, wenn ein Staat seine Schulden mal nicht bezahlt. Ich hatte zum Beispiel mal Bundesschatzbriefe und die wurden selbstverständlich zum Ende der Laufzeit auf Heller und Pfennig zurückgezahlt. Wieso sagst du denn sowas?“
„Sorry“, sagt mein Nachbar, „ich habe mich mal wieder ungeschickt ausgedrückt. Ich habe es aus Sicht des Staates gesehen …“.
„Ist doch egal von welcher Seite man es sieht“, unterbreche ich ihn.
„Wie man’s nimmt“, sagt er. „Aus Sicht des Gläubigers ist alles okay, sobald er sein Geld wiederbekommt. Und da hast du Recht, Deutschland zahlt geliehenes Geld natürlich immer zurück – unter anderem deshalb sind wir ja so ein beliebter Schuldner. Aber wir haben hinterher nicht weniger Schulden.“
„Versteh ich nicht.“
„Na ja, woher kommt denn das Geld dafür? Was meinst du?“
„Keine Ahnung“, sage ich. „Wahrscheinlich von unseren Steuern.“
„Falsch“, sagt mein Nachbar. „Es stammt aus neuen Krediten. Ich habe mir vor kurzem zufällig mal angeschaut, wie sich Deutschlands Verschuldung über die Jahre entwickelt hat: Es ist eine Kurve, die immer nur steigt. Ziemlich kräftig sogar. Es gibt eine winzige Delle in den letzten Jahren, als die ‚Schwarze Null‘ zum Staatsziel erklärt wurde. Am Gesamtbild ändert das aber praktisch nichts. Und was bedeutet das?“. Er sieht mich fragend an.
„Jetzt mach hier nicht wieder den Oberlehrer“, sage ich. „Sag’s mir einfach.“
„Na ja, die Kreditaufnahme ist praktisch jedes Jahr etwas höher als im Jahr davor. Dieses ‚etwas mehr‘ ist die berühmte Neuverschuldung. Aber der große Rest, der ist einfach dazu da, die Altschulden zu begleichen. Insofern wird die individuelle Schuld zwar getilgt, aber es gibt eben sofort eine gleich hohe neue. Und deshalb finde ich es völlig berechtigt zu sagen: Staatsschulden werden nicht zurückgezahlt.“
„Das ist ja ´n Ding“, sage ich. „Und das machen die Leute mit? Ich meine diese Investoren? Oder wissen die das gar nicht?“
„Wie könnte ich denn etwas wissen, was ein Finanzinvestor nicht weiß?“, er schaut mich an. „Alle wissen das und alle machen mit. Funktioniert doch. Machen auch fast alle Staaten so.“
„Ach so?“, sage ich. „Dann sind also alle Staaten bis über die Ohren verschuldet?“
„Bis über die Ohren …“, überlegt er … „Ja, manche stecken wirklich ganz schön tief in der … naja, in den Miesen halt. Da ist völlig klar, dass die da nie wieder rauskommen. Das beste Beispiel dafür ist immer Japan.“
„Japan?“, frage ich erstaunt, „ich hätte gedacht, das wäre so ein reiches Land.“
„Sind sie sicher auch“, sagt er. „Aber sie liegen trotzdem seit Jahren unangefochten an der Spitze der Schuldenstaaten“.
„Wieviel haben die denn so auf dem Deckel?“, frage ich neugierig.
„Das kann ich dir gar nicht sagen. Über die eigentliche Höhe der Schulden hört man nicht so viel – auch bei uns nicht. Angegeben wird immer der Prozentsatz der Schulden im Vergleich zum BIP, also zur jährlichen Wirtschaftsleistung. Nur so kann man die Schulden ja sinnvoll vergleichen“.
„Wieso?“, sage ich. „Es wäre doch viel leichter, direkt die Zahlen zu vergleichen: der hat fünf Millarden Schulden, der zehn – also hat er mehr.“
„Nein“, sagt mein Nachbar. „Es hängt von der Wirtschaftskraft des Landes ab, ob und wie schnell es seine Schulden zurückzahlen kann. Für ein bettelarmes Land wie … sagen wir … Eritrea, ist eine Milliarde eine Riesensumme. Für Deutschland ist es ein Klacks.“
„Das stimmt“, muss ich zugeben. „Und wieviel Schulden hat Japan nun?“
„Die haben seit Jahren immer über 230 Prozent ihres BIPs.“
„Ist doch nur gut das Doppelte“, sage ich. „Scheint mir nicht so schlimm zu sein.“
„Es bedeutet“, sagt er, „dass sie, wenn sie das zurückzahlen wollten, zwei Jahre und vier Monate lang jeden Cent der im Land erwirtschaftet wird, in die Rückzahlung der Schulden stecken müssten. Das ist natürlich völlig unmöglich. Im Euroraum müssen alle Länder unter 60 Prozent bleiben.“
„Aber denen leiht doch nun wirklich niemand mehr was, oder?“
„Soweit ich weiß, haben sie keine Probleme beim Absatz ihrer Anleihen. Und, weil wir vorhin doch über Inflation sprachen: Die liegt in Japan in den letzten zehn Jahren fast immer unter einem Prozent. Die Notenbank gibt sich viel Mühe, sie auf zwei Prozent zu heben, es klappt aber nicht. Und sie müssen, ähnlich wie Deutschland, auch keine besonders hohen Zinsen zahlen“, sagt er und sieht mich lächelnd an.
„Du meinst also, dass Staatsschulden gar nicht so ein großes Problem sind?“, frage ich hoffnungsvoll.
Er zieht die Schultern hoch, hebt fragend die Hände und sagt: „Was weiß ich schon? Ich verstehe nichts von Geld. Ich weiß nur, dass es vieles gibt, das dringend getan werden muss – koste es was es wolle. Und bedrucktes Papier und Zahlen auf Kontoauszügen scheinen mir im Vergleich damit ziemlich unwichtig zu sein.“