Göre Greta
„Hast du das gesehen?“, rufe ich meinem Nachbarn zu und schwenke meine Zeitung. Ich bin total entrüstet.
„Was denn?“
„Na hier, von dieser Göre Greta, dieser Schulschwänzerin!“ sage ich, als wir uns am Zaun treffen.
„Ach, diese schwedische Klimaaktivistin,“ fragt er, „was ist denn mit ihr?“
„Also zum einen nervt sie mal kolossal! Diese vorlaute Göre macht einen riesen Aufriss und meint, den Erwachsenen die Welt erklären zu müssen. Ein Mädchen! Gerade mal in der neunten Klasse! Und behindert ist sie auch noch – und die meint, aller Welt vorschreiben zu müssen, wie sie zu leben haben! Finde ich unglaublich.“
„Hmm“ sagt mein Nachbar.
„Und jetzt ist sie ständig im Fernsehen und in der Zeitung, weil sie in die USA fährt, mit einem Segelboot, weil Fliegen ja angeblich so schädlich für die Umwelt ist“.
„Na ja, auf jeden Fall wird beim Segeln nichts verbrannt, CO2 wird also kaum erzeugt. Ich würde vermuten, Segeln ist eine der umweltfreundlichsten Fortbewegungsarten.“
„Ja, stimmt schon, aber das Boot ist so ein HighTech-Teil, das besteht vermutlich nur aus allen möglichen Kunststoffen, das ist wohl kaum umweltfreundlich“, trumpfe ich auf. „Und außerdem habe ich bei Fakebook gelesen, dass sie noch Leute begleiten und die fliegen doch. Das ist doch unglaublich, so ein Aufriss, für so eine kleine Irre!“
„Das Boot wurde doch nicht für sie gebaut, oder? Sie fährt also auf einem Boot mit, das ihr jemand zur Verfügung stellt. Kann ich nicht so schlimm finden“, sagt er. „Und dass ihre Begleiter fliegen, hmm, diese Sportboote haben meist nur sehr wenig Platz und außerdem, jeden Tag fliegen Millionen Menschen, aber die paar, die dieses Mädchen in die USA begleiten, die sind jetzt ganz besonders schlimm? Verstehe ich nicht. Ist doch klar, dass man ein junges Mädchen um das es so einen Wirbel gibt – und zwar positiven wie negativen – nicht alleine reisen lässt.“
„Und du wirst ihr doch nicht vorwerfen, dass sie Prinzipien hat und sich“, er grinst, „anders als wir beide, auch daran hält? Sie lehnt das Fliegen eben ab, mit guten Gründen. Sie wird vor der UN sprechen, muss dafür über den Atlantik – und schafft das, ohne zu fliegen. Hut ab! würde ich sagen.“
Jetzt reicht es mir aber doch, „Du verteidigst sie auch noch? Stört dich denn gar nicht, dass da eine behinderte Hauptschülerin – und zwar geistig behindert! – so ein Gewese macht? Dass die Medien nahezu täglich über sie berichten und dass auch bei uns jetzt zehntausende Schüler ihr nacheifern und Freitags die Schule schwänzen? Sind die denn alle durchgedreht? Die haben doch bloß keinen Bock aufs Lernen, die könnten doch genauso gut am Samstag auf die Straße gehen.“
„Nö, warum sollte mich das denn stören? Erstmal hat sie keinen Wirbel gemacht, sondern sich still in Stockholm mit einem Schild vors Parlament gesetzt. Irgendwann war sie Dauerthema in den Medien und es ist diese Bewegung entstanden, aber das hat eine ganze Weile gedauert. Sie hat ein großes Ziel, das an den Grundfesten unseres Systems rüttelt, da wäre sie doch bescheuert, wenn sie sich den Medien verweigern würde, die ihre Botschaft in die Welt bringen, oder?“
Er schaut mich fragend an.
„Und muss ich dir altem Gewerkschaftler wirklich erklären wie streiken geht? Man streikt nicht am Feierabend oder am Wochenende! Gestreikt wird da wo's weh tut oder zumindest auffällt, nämlich während der Arbeitszeit. Und der Erfolg gibt den Schülern doch recht, Aufmerksamkeit kriegen sie jede Menge.“
„Was ich aber nicht verstehe“, fügt er noch nachdenklich hinzu, „wieso reitest du so darauf rum, dass sie behindert ist?“
„Na weil sie’s eben ist, weißt du das denn nicht? Sie hat dieses Asperger Dingens. Das ist autistisch.“
„Doch, weiß ich schon. War eine der ersten Sachen die ich von Greta erfahren habe, fand ich damals schon merkwürdig“.
„Merkwürdig ist gut, bescheuert ist das!“ meine ich, zufrieden, dass wir wenigstens hier einer Meinung sind.
„Nee, nee, du hast mich falsch verstanden. Merkwürdig fand ich, dass ich das schon im ersten Absatz des Artikels erfuhr. Das hat doch nichts mit ihren Forderungen zu tun, die sind vernünftig. Und mittlerweile habe ich schon von zahlreichen namhaften Wissenschaftlern gehört, dass sie sehr gut über das Thema Klimawandel informiert ist. Die unterstützen alles was Greta sagt. Also sollte ihr Asperger Syndrom doch überhaupt keine Rolle spielen.“
Er schüttelt den Kopf. „Und überhaupt, Asperger, ich hab’s mal nachgeschlagen, das ist eine der zahllosen autistischen Störungen, meistens verbunden mit Schwierigkeiten im sozialen Miteinander. Das kennt man ja von vielen Autisten, die können z.B. keine Mimik erkennen oder Untertöne, Ironie zum Beispiel. Verstehen sie einfach nicht. Aber das heißt ja nicht, dass sie dumm sind, ich verstehe meine Frau ja oft auch nicht“. Er schüttelt lachend den Kopf.
„Und wie wir seit Rain Man wissen, du erinnerst dich doch?“ fragt er, „mit Dustin Hoffman, haben wir damals mit den Frauen im Kino gesehen?“
Ich nicke.
„Also Rain Man, der Autist, er basiert übrigens auf einer realen Person, war ein Zahlengenie, konnte sich die unglaublichsten Sachen merken, rechnete wie ein Computer, konnte sich aber nicht alleine die Schuhe zubinden. Der Autismus bringt es also oft mit sich, dass einem manches schwerfällt oder unmöglich ist, was für uns alltäglich ist. Er kann aber auch ganz unglaubliche Fähigkeiten mitbringen.“
„Und Greta“, schließt er, „hat sich mit ihren 16 Jahren offenbar schon ziemlich tief in wissenschaftliche Fachpublikationen vertieft – und sie auch verstanden. Da war ich mit 16 ziemlich weit weg von, wie ist es mit dir?“
Ich überlege. „Gelesen habe ich zu der Zeit überhaupt nicht viel, glaube ich. Halt, doch: Marvel Comics, Spider Man, Hulk und so“.
Er grinst, „dann bist du ja in einer Liga mit Greta. Waren sie denn wenigstens auf Englisch?“
„Nein“, muss ich zugeben, „die gab‘s damals schon auf Deutsch.“
„Also“, meint er abschließend, „wenn wir akzeptieren, dass wegen der Klimakatastrophe tatsächlich etwas unternommen werden muss, dass die Politik davon seit mehr als 30 Jahren weiß und nichts getan hat, dass man also möglichst viele Leute auf die Straße bringen muss und“, er hebt mahnend den Zeigefinger, „dass es die Jungen viel mehr betrifft als die Alten, dann macht Greta eigentlich einen ziemlich guten Job.“
„Na ja, wenn du es so sehen willst“, meine ich kopfschüttelnd. „Hast schon recht, irgendwie.“ Ich überlege, „Hast du Lust nachher noch auf ein Bier zu kommen, ein paar Pfeile werfen?“
„Aber sicher. Und du kannst dir mal überlegen, ob du nächsten Freitag mit auf die Demo gehst. Es wird Zeit, dass wir Alten denen mal den Rücken stärken. Obwohl“, er überlegt, „Rückenstärkung haben die jungen Leute eigentlich gar nicht nötig. Aber Hilfe, Hilfe können sie gebrauchen. Ich hab‘ schon ein Schild gebastelt: ‚Alte Säcke fordern krasse Klimapolitik!‘ Das würde dir auch stehen“, er grinst.
„Alte Säcke? Das trägst du schön selber.“