DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Naturstrom

Was ist los mit dir?“, fragt mein Nachbar. „Du siehst irgendwie … missmutig aus. Ist was passiert?“

„Ach nix“, sage ich und schüttle den Kopf. „Alles okay.“

Er sieht mich zweifelnd an.

„Na ja“, sage ich und nicke mit dem Kopf zum Haus, „ich hab ein bisschen Streit mit meiner Frau.“

Er nickt verständnissvoll. „Kommt vor.“

„Ziemlich selten“, sage ich, „… aber gelegentlich eben doch“. Ich schüttle wieder den Kopf. „Ich meine …, ich bin doch nun wirklich aufgeschlossen, aber irgendwo muss doch auch mal Schluss sein.“

Mein Nachbar sagt nichts, sieht mich nur fragend an.

„Also …“, sage ich, „wir haben so eine Reportage über drei junge Politikerinnen gesehen“.

„Du hast …?“.

„Na ja, sie hat sich die angesehen und ich kam dazu. Und als ich mir das eine Weile angehört hatte, muss ich wohl irgendwas Falsches über Frauen in der Politik gesagt haben und damit ging’s los.“

Er grinst. „Was hast du denn gesagt?“

Ich überlege, „weiß ich gar nicht mehr. Ist auch egal. Weil ich irgendwann dann nämlich sagte, was ich wirklich darüber denke. Nämlich, dass das ja alles schön und gut ist, dass Frauen arbeiten, sogar in die Politik gehen, dass sie selber entscheiden, ob sie eine Familie wollen oder nicht und ob sie bei ihren Kindern zu Hause bleiben … Aber dass es eben auch völlig unnatürlich ist. Und dass es dadurch natürlich zu Problemen kommt.“

Ich mache eine Pause. „Na und seit dem hängt der Haussegen ziemlich schief kann ich dir sagen.“

„Kann ich mir vorstellen“, sagt er mitfühlend.

Seine Unterstützung tut mir gut. „Freut mich“, sage ich, „dass du da meiner Meinung bist.“ Und habe eine Idee: „Sag mal, du kennst dich doch gut in Geschichte aus …“.

„Nicht wirklich“, sagt er.

„Nicht so bescheiden! Du weißt da ganz gut Bescheid.“ Ich überlege, „also, … ich habe doch recht damit, dass dieses Verhalten von Frauen unnatürlich ist, oder? Früher waren die Frauen zu Hause und haben sich um die Kinder gekümmert. Alles andere war Männersache.“

Er schaut mich etwas zweifelnd an, den Kopf leicht schief gelegt.

„Aber so war es doch nun mal!“, beharre ich. „Das kann doch niemand bestreiten.“

Er wiegt nachdenklich den Kopf hin und her. „Ich würde dir zustimmen“, sagt er schließlich – und ich beginne zu lächeln, „dass es in unserer jüngeren Vergangenheit, den Männern in vielen Kulturen sehr erfolgreich gelungen ist, die Frauen ziemlich in ihren Möglichkeiten zu begrenzen und sie auf die Erfüllung ganz bestimmter Rollen zu beschränken.“

Mein Lächeln schwindet.

„Vielleicht“, fährt er fort, „geht das sogar schon seit dem Neolithikum so, also seit der Mensch sesshaft wurde. Das wären rund zwölftausend Jahre, in unseren Breiten allerdings eher fünf- bis sechstausend. Aber da kann man natürlich nur spekulieren. Aber bis dahin …“, er schüttelt den Kopf. „Das waren ziemlich sicher egalitäre Verhältnisse. Da gab es keine Rollenverteilung.“

Ich überlege und sage dann: „Aber, zwölftausend Jahre, das ist doch schon mal was, oder? Ich meine, das ist dann die komplette menschliche Geschichte.“ Ich nicke zufrieden. „Das reicht mir.“

„Wäre dann halt“, sagt mein Nachbar, „was völlig anderes, als was du zu deiner Frau gesagt hast“.

„Wieso? Zwölftausend Jahre sind doch wohl mal ’ne Hausnummer! Das ist doch damit sozusagen die Definition normalen Verhaltens.“

„Nee“, schüttelt er den Kopf, „gesagt hattest du, dass das Verhalten der Frauen unnatürlich sei“.

Ich nicke.

„Aber das, was die Menschen sich im Laufe der Geschichte so ausgedacht haben, nennen wir ja nicht ‚Na-tur‘, sondern ‚Kul-tur‘.“ Er zeichnet jeweils Anführungszeichen in die Luft. „Also all das, was Menschen sich ausdenken darüber, wie man sich zu verhalten hat, wie man ein gottgefälliges Leben führt“, er verzieht das Gesicht, „kurz gesagt, was sie für richtig und was für falsch halten. Das ist aber etwas anderes als das, was natürlich wäre.“

Während ich noch darüber nachdenke, fährt er schon fort: „Aber ich verstehe auch gar nicht, warum es überhaupt von Bedeutung sein soll, ob Frauen sich natürlich verhalten oder nicht.“

„Wie?“, frage ich ungläubig, „du alter Naturfreak sagst mir, dass natürliches Verhalten egal ist? Dass ich das noch erleben darf.“ Ich grinse zufrieden.

„Ich bin kein Naturfreak“, sagt er.

„Du läufst barfuß rum und kaufst im Bioladen“, sage ich. „Das reicht meiner Ansicht nach völlig für die Einstufung als Naturfreak.“

„Wenn du meinst“, sagt er lachend, „aber was ich meine, ist folgendes: Wir, also vor allem die Menschen in den Industrieländern, wir leben so unnatürlich wie es nur irgend möglich ist. In jeder denkbaren Hinsicht.“

„Du übertreibst“, sage ich. „So schlimm ist es nun wirklich nicht.“

„Nein“, sagt er, „ich übertreibe nicht. Natürlich wäre es, wenn wir als Jäger und Sammler leben würden. So hat sich der Mensch entwickelt.“

„Na ja“, sage ich, „in den letzten zwölftausend Jahren hat er sich aber anders entwickelt.“

„In dieser kurzen Zeit“, sagt er, „hat sich der Mensch praktisch nicht mehr verändert. Also …“, er zögert, „nicht in dem was ihn ausmacht, in seiner Biologie“.

„Kurze Zeit?“, werfe ich ein.

„Kurze Zeit“, bestätigt er. „Die Entwicklungsgeschichte der Gattung Homo ist echt lang; so ungefähr zweieinhalb Millionen Jahre. Vor 1,5 Millionen Jahren begann das Gehirn unserer Vorfahren unserem zu ähneln.“ Er tippt sich lächelnd gegen die Stirn.

„Menschen sind über Jahrhunderttausende zu Jägern und Sammlern optimiert worden. Da haben sich auf einer ganz grundlegenden Ebene die Mechanismen entwickelt, mit denen Homo Sapiens sich in der Welt und unter seinesgleichen zurecht findet. Da hat er gelernt, mit den verschiedensten Gegebenheiten klar zu kommen, da haben sich Körper und vor allem Gehirn und Nervensystem zu dem entwickelt, was wir heute haben. Einen der frühen Menschen, von vor 150.000 Jahren, könnte man von uns nicht mehr unterscheiden. Nicht von innen und nicht von außen. Ein Mensch von vor 70.000 Jahren war so intelligent wie wir. Die Forscher sind sich zum Beispiel sicher, dass er – oder sie – kein Problem damit hätte, unsere Sprache zu lernen.“

„Ich verstehe überhaupt nicht, worauf du hinauswillst“, sage ich. „Du kannst uns doch nicht mit den Neandertalern vergleichen.“

„Die Neandertaler …“, fängt er an, unterbricht sich aber und sagt: „… egal. Was ich meine ist folgendes: Wir leben komplett unnatürlich. Komplett. Und das begann genau zu dem Zeitpunkt, als die Menschen sesshaft wurden. Seitdem entfernen wir uns immer weiter von einem natürlichen Verhalten. Und heute sind wir davon so weit entfernt, wie nur irgend möglich.“

Ich schaue ihn zweifelnd an.

„Die frühen Menschen lebten in größeren – aber nicht sehr großen – Gruppen, blieben nie lange an einem Ort, hatten überwiegend keine festen Behausungen und ihre Werkzeuge gingen kaum über bearbeitete Steine hinaus. Sie mussten Tag für Tag schauen, dass sie etwas zu essen finden, dafür waren sie viel unterwegs und sie waren vermutlich nicht wählerisch in dem, was sie aßen. Insekten, Wurzeln, Würmer, Aas … egal. Und sie waren, wie praktisch alle Menschen, immer, auf ihr direktes Umfeld beschränkt. Sie kamen nur dort hin, wo ihre Füße sie hinbrachten. Und natürlich hatten sie so gut wie keine Besitztümer.“

Er schaut mich an. „Wo genau siehst du da Gemeinsamkeiten zu dir und mir?“

„Na ja“, sage ich ein bisschen hilflos, „wir sind jetzt eben weiter. Und das ist doch auch nicht schlecht.“

„Natürlich nicht“, stimmt er mir zu. „Ich möchte auch nicht so leben, aber darum geht es ja auch nicht. Es geht darum, dass du den Frauen vorwirfst, sich unnatürlich zu verhalten. Wir leben aber alle und in jeder Hinsicht unnatürlich und auch unser gesamtes Umfeld ist völlig unnatürlich. Wieso also sollen die Frauen sich nun in einem bestimmten Aspekt“, er zeichnet wieder mal Anführungszeichen in die Luft, „'natürlich' verhalten?“. Er zieht die Augenbrauen hoch und hebt fragend die Hände.

„Genauso könnten wir uns gegenseitig vorwerfen in Kleinfamilien zu leben und Schuhe zu tragen“, fügt er hinzu.

„Du meinst also wirklich“, frage ich, „dass wir nichts mehr auf ganz natürliche Art machen?“

Er überlegt. „Doch“, sagt er, „eine Sache fällt mir ein“.

„Atmen“, sage ich schnell.

Er wiegt den Kopf. „Ich habe neulich eine Doku gesehen, da ging es um die Atmung … nein, ich glaube die meisten Menschen bei uns atmen nicht mal mehr natürlich.“

„Was denn dann?“, frage ich.

„Pissen“, sagt er knapp.

Ich muss lachen. „Pissen?“

Er zuckt die Achseln. „Weiter wüsste ich nichts.“

Mir fällt etwas ein. „Aber das ist ja prima!“, sage ich.

Er sieht mich verwirrt an: „Wieso?“

Ich überlege kurz ob ich ihm das erzähle, aber da rutscht es mir schon raus: „Meine Frau nervt mich immer damit, dass ich mich zum Pinkeln hinsetzen soll – und vielleicht kann ich das jetzt mit dem Argument abbügeln, dass ich eben natürlich pinkle.“ Ich halte kurz inne. „Und wenn nicht, kann ich sie damit wahrscheinlich zum Lachen bringen – was mir momentan wirklich schon reichen würde.“

„Na dann“, sagt mein Nachbar. „Viel Erfolg!“